Leseprobe aus "Ackerstraßenmord. Kapitel 2":

 

II. Zwei Kommissare

 

 Alexander von Burg stapft durch die Gipsstraße in Richtung Rosenthaler Vorstadt. Überall liegt zu Eis gefrorener Schneematsch. Von Burg hat seine Büroschuhe mit festen Straßendienststiefeln vertauscht, trägt einen schweren Wintermantel und eine Pelzmütze. Es geht gegen halb sechs, die Gaslaternen brennen schon.

 Mit der Pferdedroschke käme man um diese Zeit und bei dem scheußlichen Wetter kaum schneller voran. Darum hat sich der Kommissar dazu entschlossen, den vor ihm liegenden Weg von einem Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Es ist ja auch recht gesund, nach so einem anstrengenden Tag im Büro mit Kaffee und Zigarren.

 Vor zwei Stunden ist aus einer Gaststätte in der Ackerstraße ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz telefoniert und der Fund einer Leiche vermeldet worden. Die leitenden Herren des Mordbereitschaftsdienstes saßen gerade bei Tee und Gebäck in einer wichtigen Dienstbesprechung. Soeben erzählte einer von ihnen, der dabei gewesen war, von der großartigen Zusammenkunft vom Vortage, in der Kaiser Wilhelm II. zum Ritter des Malteserordens geschlagen worden war. In der Festrede hatte seine Majestät die Bedeutung des Ritterordens im Kampfe „gegen den menschenfeindlichen Geist des Unglaubens und des Umsturzes“ hervorgehoben. Zudem begannen heute in Deutsch-Südwestafrika Friedensgespräche zwischen den Kolonialbehörden und Simon Copper, dem Anführer der aufständischen Hottentotten. Wie? Eine männliche Leiche in der Ackerstraße? Bestimmt wieder so eine Lumpenfigur, wie sie alle paar Tage irgendwo gefunden wird, Aufklärung des Falles von vornherein nicht allzu wahrscheinlich. Also eine Sache für den jungen Kommissar Gerlach, der still und gelangweilt blickend dasitzt und sich nicht für Politik interessiert. Gerlach wird mit Unterstützung zweier Revierpolizisten schon mal alles absperren, die Leute beruhigen, erste Spuren sichern. Soll sich bewähren, der junge Mann, der bürgerliche Grünschnabel. „Viel Glück, Herr Kollege, von Burg kommt dann später nach!“

 „Adelsklub“ wird der Mordbereitschaftsdienst in Polizei- und Justizkreisen spöttisch genannt, und nachdem Alexander von Burg vor einigen Jahren seinen Dienst dort antrat, mußte er so manchen Scherz, manche Anspielung über sich ergehen lassen: „Nun haben wir ja endlich einen Alexander hier. Wir krönen Sie als Alexander der IV. zum Gegenkaiser.“ Undsofort.  Aber das hat sich dann gegeben; vor allem nachdem von Burg einige recht knifflige Fälle gelöst hatte.

 Neue Aufregung gab es, als der junge Ernst Gerlach 1904 seinen Dienst antrat. Der Vater war Oberinspektor der Strafanstalt Plötzensee, der Bruder Staatsanwalt in Moabit, immerhin. Aber eben nicht von Adel. Was hieß da „mehrere Semester Rechtswissenschaften studiert“! Auf Abstammung wie Gesinnung kommt es an! Naja - im August 1906 hat man ihn zum Kriminalkommissar ernannt, jetzt gehört er dazu, da ist nichts zu machen.

 

 Alexander von Burg überquert die Kreuzung Elsässerstraße/Ackerstraße und nähert sich der grauen Häuserzeile auf der linken Seite, wo die Leiche liegen soll. Was ist denn das? Haben die noch nicht genug? Eine Gruppe Proleten mit einer im Wind flatternden roten Fahne kommt ihm entgegen, irgendwas Goldfarbenes daraufgestickt. Haben bei der Wahl im Januar ganz gehörig was aufs Haupt bekommen, und bei der Stichwahl letzte Woche gleich nochmal. Gott sei Dank: nur noch 43 Abgeordnete im Reichstag, vorher wohl über 80. Aber die geben anscheinend nicht so einfach auf. Gesocks ohne Vaterland. Weichen nicht mal aus auf dem Bürgersteig, beanspruchen zwei Drittel der Breite für sich. Nun gut - Mord wird es wohl auch immer geben.

 Im trüben Gaslicht sieht von Burg im Durchgang zu einem Hinterhof einen Schutzmann stehen. Der Mann salutiert. „Melde gehorsamst: hier entlang.“

 „Jaja, schon gut, Schulz, bringen Sie mich mal zum Tatort. Wo ist es denn?“

 „Unten in einem Keller, hinten. Ist ein richtiges Rattenloch. Aber der Mann...“

 „Was ist mit dem Mann?“

 „Ich habe gehört, er könnte vielleicht ein Offizier sein, ein Herr von Adel.“

 „Schulz, Sie spinnen wohl. In dieser Gegend? Hat das Opfer denn Papiere bei sich?“

 „Meines Wissens: nein.“

 „So, also keine Papiere. Los, gehen wir!“

 Festen Schrittes marschieren sie durch den trockenen Durchgang, Schulz voran. Der Innenhof wird schwach von einer Petroleumlampe aufgehellt, die neben einem finsteren Kellereingang auf einer Mülltonne steht.

 „Da unten.“

 „Hab ich mir fast gedacht, Schulz. Wo ist denn Gerlach?“

 „Vernimmt wohl Zeugen da drin.“

 „War der Gerichtsarzt schon da?“

 „Nein. Soll ich wieder...?“

 „Jawohl, gehen Sie auf Ihren Posten. Und melden Sie uns jeden, der rein oder raus will! Hoffentlich kommt der Arzt bald. Ab!“

 „Sehr wohl, Herr Kommissar!“

 Ist auch einer dieser Halbproleten, dieser Schulz, trotz Pickelhaube. Alles Fassade sein korrektes Gehabe. Daß man auf solche Figuren reinfallen kann wie diesen „Hauptmann“ von Köpenick, eigentlich ein Schuster, Wilhelm Voigt hieß er wohl. Gab ein paar freche Befehle, und alle fielen darauf rein. Das würde von Burg niemals passieren. Vorsichtig steigt er die Stufen hinab, schiebt die Tür auf. Im Kellergang brennt Licht, hinter einer Tür links wird gesprochen. Von Burg hört eine Frauenstimme, dann erkennt er den Tonfall des Kollegen Gerlachs. Von Burg tappt weiter in den Gang hinein.

 Rechts hinter einer Ecke steht ein weiterer Schutzmann, den von Burg nicht kennt.

 „Guten Abend. Kommissar von Burg, Mordbereitschaft.“

 „Sehr wohl!“

 Sehr wohl. Aja, meldet nicht mal seine Dienststelle. Sehr wohl. Aber was soll man sich ewig ärgern. „Wo ist die Leiche?“

 „Hinten links, Herr Kommissar!“

 „Besondere Vorkommnisse?“

 „Sehr wohl, nein.“

 Na, das ist ja ein ganz besonderes Exemplar. Bejahung und Verneinung in einem Atemzug. Was der wohl macht, wenn er selbst mal was entscheiden muß. Von Burg wippt seinen Körper ein wenig auf den Stiefelspitzen auf und ab. „Danke für die Meldung. Weitermachen. Ich sehe mir jetzt den Tatort an.“

 „Jawohl.“

 Fragt nicht mal nach dem Dienstausweis, kennt mich doch gar nicht, könnte ja jeder einfach kommen und sich Kommissar nennen. Von Burg kramt in der Manteltasche nach Zigaretten und Feuerzeug. Was er gleich zu sehen bekommt, wird wohl nicht gerade schön sein. Eine von vielen Varianten, die er schon erblickt hat in den letzten Jahren: aufgeblähte Wasserleichen, ein Kindskörper ohne Kopf in Packpapier, die erwürgte Frau in der Pferdebahn.... Für das Ertragen solcher Momente bekommt von Burg sein Gehalt. Die Aufklärung der Fälle ist eher ein Denksportspiel am Schreibtisch: Karteien, Telefonate, Verhöre, Schall und Rauch, eine Kontorarbeit gleich vieler anderer. Immerhin bringt die neue Fingerabdruckmethode ein bißchen Abwechslung. Aber in diesem Siff hier findet man wahrscheinlich sowieso nichts.