Im Boot

 

I.

 

  Kaum geschlafen in dieser Nacht. Der verfluchte Wind nahm immer mehr zu, erst gegen Morgen flaute er etwas ab. Kalt ist es, kalt, obwohl wir fast noch in Afrika sind, vielleicht fünfzig Kilometer von der Küste entfernt. Die Frau aus Somalia hat die ganze Nacht im Fieber gesprochen. Ihr Kind ist irgendwann eingeschlafen. Sein Gesicht leuchtet im Rhythmus des Bootsgeschaukels auf, beschienen von einer schwachen Morgensonne.

  Gestern abend waren wir achtunddreißig, als es langsam hell wurde, nur siebenunddreißig. Niemand hat etwas bemerkt. Das ist komisch. Oder traurig. Niemand weiß, wer es war. Zu schnell sind wir in dieses Boot geraten. Was wissen wir schon voneinander? Ich konnte vielleicht mit fünf, sechs etwas sprechen. Zwei verstanden Kisuaheli, die anderen etwas Englisch. Jeder versuchte sich im Boot festzuhalten, um nicht über Bord zu gehen. Das ist die Hauptsache. Und daß es nach Norden geht, immer nach Norden. Rechts sehe ich die Sonne, irgendwann wird sie uns wärmen. Ich habe auf dem iphone eine Wettervorhersage aufgerufen. Es soll trocken bleiben, aber der Wind könnte stärker werden.

  Wir haben neun Schwimmwesten.

 

II.

 

  Gut, daß wir eine Menge Wasser an Bord haben. An Plastikkanister oder –flaschen heranzukommen, war nicht so schwer. Alle haben noch irgendwo Wasser aufgetrieben. Mit Essen war es schwer. Die Bewacher in dem Lager haben höllisch aufgepaßt, daß möglichst niemand irgendwas Eßbares wegsteckte. Aber wir haben es geschafft. Am wichtigsten war jedenfalls das Wasser.

  Daß wir überhaupt rausgekommen sind, ist ein Wunder. Allah hat uns beschützt, eine andere Erklärung habe ich nicht. Obwohl sie es sicher nicht durften, haben sich die Schweine von Bewachern gestern abend betrunken, haben am Lagerfeuer gegrölt und gelacht. Geblendet von dem Feuerschein haben sie nicht bemerkt, was rings um sie vor sich ging. Es ist auch nie jemand da, der sie kontrolliert. Ihre Waffen in Reichweite griffbereit haben sie sich amüsiert, wahrscheinlich dreckige Bemerkungen über uns gemacht, fühlten sich stark und sicher. Wir haben einen günstigen Moment abgewartet und sind durch den Zaun geschlüpft, den zwei von uns in der Nacht zuvor schon an drei Stellen angeschnitten hatten. Das hatten sie nicht bemerkt. Sie sind so dumm, daß sie den Zaun nicht einmal regelmäßig kontrollieren. Wahrscheinlich haben sie erst im Morgengrauen bemerkt, daß wir weg waren.

  Hoffentlich hat der Bootsführer genug Benzin mitgenommen.

 

III.

 

  Die mail-Adresse des Bootsführers hatte ich noch in der Wüste erfahren, zwei Tage bevor mich die Patroullie mit drei anderen aufgriff und in das Lager brachte. Es hat mich eine Menge Geld gekostet, aber das mußte sein. Zum Glück haben sie mir im Lager das iphon gelassen. Man weiß nie, was sie vorhaben. Es geht ihnen nur um sich selbst. Sie durchsuchen die Gefangenen hauptsächlich nach Geld. Aber sie finden nicht alles. So hatten wir genug, um den Bootsführer zu bezahlen. Es werden neue Gefangene ins Lager kommen, denen die Schweine abnehmen können, was ihnen in den Sinn kommt. Vielleicht tun sie auch bloß so, als ob sie die Gefangenen bewachen.

  Die Sonne steht jetzt schon ziemlich hoch über dem Wasser. Der Wind weht rauh schräg von vorn. Es ist wärmer geworden, fast schon heiß, und die Wasserspritzer erfrischen uns.

  Der Bootsführer, er hat sich uns augenzwinkernd als „Odysseus“ vorgestellt, sitzt im Heck und bedient den Außenbordmotor. Ab und zu blickt er sich besorgt um. Ich habe einen Lappen mit Seewasser getränkt und kühle der Frau aus Somalia die Stirn.

 

IV.

 

  Mit wem spreche ich? Mit mir selbst. Dieser Strom an Gedanken versiegt nicht. Für wen schreibe ich? Für mich selbst? Das hätte keinen Sinn. Was auch geschieht, ich werde mich daran erinnern können, immer, bis zum Moment des Todes. Der könnte schon bald kommen. Aber andere vielleicht würden es lesen wollen. Die ich hinter mir gelassen habe, die Menschen in meinem Dorf, oder Menschen irgendwo.

  Es ist schwer, bei dem Geschaukel einen Text in dieses iphon zu tippen. Aber es geht. Und noch habe ich Strom. Wenn wir untergehen, werde ich es in eine wasserdichte Plastikbox stecken.

  Die Schweine werden es nicht lesen. Zweimal haben sie sich abends eine Frau gegriffen, haben sie weggeschleppt hinaus aus dem Lager. Die Frauen kamen nicht zurück. Einen von uns haben sie geschlagen, bis er ohnmächtig wurde. Er starb zwei Tage später. Er hatte gefragt, wo die Frauen seien.

  Solche Schweine gibt es wahrscheinlich überall.

  Sie werden es nicht lesen.

 

V.

 

   Es ist Nachmittag. Wir sind über vierzehn Stunden auf See, haben sicher schon eine gute Strecke zurückgelegt. Ich schätze, etwa hundert Kilometer. Aber vor dreißig Minuten ist der Motor ausgefallen. Es hatte sich seit einiger Zeit angedeutet durch ein komisches Geräusch. Der Bootsführer findet den Fehler nicht. Wir haben zum Glück Ruder und einen Notmast mit Segel an Bord.

  Das ist ein schwerer Schlag. Die Leute wirken sehr niedergeschlagen. Wirklich kreuzen gegen den Wind können wir nicht. Aber da der Wind schräg von vorn aus Nordwest bläst, können wir uns etwa in Richtung Nordost bewegen, kommen ziemlich langsam voran. Odysseus versucht weiterhin, den Fehler am Motor zu finden. Zwei von uns helfen, sie haben in Äthiopien als Automechaniker gearbeitet.

  Ganz weit in der Ferne sehen wir die Aufbauten eines Schiffes. Sein Rumpf liegt unter der Horizontlinie. Es scheint nicht auf uns zuzukommen und bewegt sich langsam und stetig nach Westen. Vermutlich sehen sie uns nicht. Sie haben auch keinen Grund, wegen eines winzigen Segels im Süden ihren Kurs zu ändern.

  Hoffentlich sind wir der Küstenwache endgültig entkommen.

 

VI.

 

  Aufgewacht. Eine halbe Stunde vielleicht habe ich geschlafen. Es wird dämmerig rings um uns. In einer Stunde etwa wird es dunkel sein. Eine große Müdigkeit in mir nimmt zu. Wir versuchen nun, abwechselnd zu schlafen und zu wachen.

  Der Wind ist aufgefrischt und kommt mit kurzen wütenden Böen mehr aus Norden, als habe er sich mit denen verbündet, die uns nicht in Europa sehen wollen.

  Das Schreiben auf dem iphon wird immer schwieriger. Ich werde den Strom für wichtige Momente aufsparen. Ein Genosse – ich nenne ihn Genosse, weil er wie ich mit seiner Regierung in Konflikt geriet und verhaftet wurde – hat mir ein Schreibbuch geschenkt. Allen hier an Bord fehlt irgendwas, aber manche haben auch Dinge dabei, die sie jetzt gar nicht brauchen. Er hat vier solcher Bücher dabei, hat sie mitgenommen, um sie vielleicht gegen etwas Brauchbares einzutauschen. Jetzt hat er mir eines geschenkt. Es ist großartig. Er heißt James und kommt aus Zimbabwe. Dort waren die Briten Kolonialherren wie bei uns. Aber vorher waren bei uns die Deutschen. Es ist komisch, dieses Schreibbuch, in dem ich jetzt mit einem Bleistift weiterschreibe, kommt aus China, und der Bleistift aus Deutschland. Unsere Regierung läßt die Chinesen an unserer Küste einen riesigen Hafen bauen, furchtbar viel Natur wird zerstört. Die Deutschen kamen 1884, nannten unser Land „Deutsch-Ostafrika“, mußten ihre Kolonie nach dem Ersten Weltkrieg an die Briten übergeben. In der Zeit der deutschen Herrschaft starben ungefähr eine Million von uns.

 

VII.

 

  … eine Million…eine unvorstellbar große Zahl… und wenn man bedenkt daß in unserem Land zu dieser Zeit etwa 8 Millionen Menschen lebten, wird diese Zahl noch grausamer. Damals wußte dies niemand so genau. Aber später haben unsere Historiker es herausgefunden. Natürlich starben die Menschen nicht alle auf einmal, sondern im Verlauf von etwa dreißig Jahren.

  Die Deutschen kamen 1884 übers Meer. Niemand von uns hatte sie eingeladen. Wir brauchten sie nicht. Sie kamen, angeblich um uns aus einer großen Finsternis zu befreien und uns ihr Licht zu bringen. Sie nannten Afrika den „schwarzen Kontinent“. Alles hier war schwarz, unsere Haut, unsere Kultur, unsere Gedanken, unsere Religionen, alles schwarz. Wie der sternenlose Nachthimmel, wie alles tief unten in der Erde, nur schwarz.

  Die Deutschen, es waren zuerst nur einige wenige, überredeten zwölf unserer Häuptlinge, Papiere zu unterzeichnen, deren Inhalt sie nicht verstanden. Es stand darin in fremder Sprache geschrieben, daß die Deutschen und ihr großer Kaiser die Häuptlinge und ihr Volk beschützen würden vor Feinden, und daß zwischen beiden Seiten ewige Freundschaft herrschen sollte. Dafür würden die Häuptlinge den Landbesitz an die Deutschen abtreten, die dann darauf machen könnten, was sie wollten wie in ihrem eigenen Land. Unsere Vorfahren kannten aber gar keinen Landbesitz, keine Bergwerke, Steuern oder Zölle. Das Land gehörte allen, dem ganzen Volk. Die Häuptlinge konnten sich gar nicht vorstellen, was die Deutschen dort wollten. Sie waren aber sehr beeindruckt von den Waffen, die die Deutschen hatten, fühlten sich zugleich bedroht und erleichtert, daß sie sich unter ihren Schutz stellen konnten. So setzten sie ihr Handzeichen darunter.

  Die Deutschen wollten unsere Männer dazu bringen, nur noch eine Frau zu haben. Denn so schrieb es ihnen ihr Christengott vor. Aber sie nahmen sich Frauen von uns, obwohl sie in ihrem Land schon eine Frau hatten.

  Sie behaupteten, sie wollten die Sklaverei abschaffen, aber dann führten sie eine andere Art von Sklaverei ein: wir – also unsere Ahnen – mußten Steuern zahlen für eine Hütte, später für jede Person darin. Um diese Steuern aufzubringen, mußten wir überall für sie arbeiten, auf Plantagen, beim Wegebau, beim Bau von Eisenbahnen. Wer nicht wollte, wurde gezwungen, durch Schläge und Ketten um den Hals. Viele wurden krank und starben. In den Dörfern fehlten die Männer, die Frauen mußten viel härter arbeiten als früher.

  Wir hatten schon immer unser Bier, Pombe, das aus Bananen gebraut wird. Aber jetzt brachten die Deutschen ihren starken Branntwein, der viele von uns vergiftete. Und all dies geschah im Auftrag des großen deutschen Kaisers und des Christengottes, dessen Sohn für uns gestorben war, wie sie sagten.

  Alles war Lüge und Betrug.

  Das Schreiben geht besser in diesem Buch als auf dem iphon. Man kann das Buch immer schnell zur Hand nehmen oder wieder weglegen in eine Plastiktüte.

Es wird nun rasch dunkel. Wir müssen uns alle darauf konzentrieren, diese Nacht zu überstehen. Der Wind wird noch stärker.

 

VIII.

 

  Heute morgen haben wir eine Leiche im Boot entdeckt. Es war sehr kalt, und alle haben sich zunächst auf sich selber konzentriert. Irgendwie muß man seine Notdurft verrichten undsoweiter. Dann merkten wir, daß sich jemand überhaupt nicht regte. Der Mann fühlte sich kalt an, es war schnell klar, daß er gestorben ist. Wir fanden bei ihm zwei Medikamenten-Schachteln. Alles war aufgebraucht. Jemand sagte, er sei aus dem Sudan.

  Der Frau aus Somalia scheint es besser zu gehen. Sie riecht merkwürdig, aber lacht jetzt zum ersten Mal. Ihr Kind brabbelt allerlei vor sich hin.

  Odysseus hat einen Petroleum-Kocher dabei. Irgendwie schafft er es, etwas Kaffee zu kochen.

  Glücklicherweise hat der Wind etwas nachgelassen. Zugleich heißt das, daß wir langsamer vorankommen. Aber der Wind kommt jetzt mehr aus Südwest, das ist gut. Den Motor können wir wohl vergessen.

  Nach dem Frühstück haben wir den Toten ins Wasser gleiten lassen. Er war sicher Muslim. Jemand sprach ein Totengebet in arabischer Sprache.

  Weit und breit ist kein Schiff zu sehen.

 

IX.

 

  Während der Zeit, in der die Deutschen unser Land beherrschten, gab es von Beginn an Gegenwehr und Aufruhr. Die Fremden hatten eine sogenannte Schutztruppe aufgestellt, mit Söldnern aus anderen afrikanischen Ländern unter Befehl deutscher Offiziere. Die Söldner wurden „Askari“ genannt. Sie waren häufig noch brutaler als die Deutschen selbst. Dafür wurden sie gut bezahlt. Schweine. Sie schützten sich selbst und ihre Privilegien und all das was ihre Auftraggeber uns geraubt hatten.

  Den größten Aufstand gab es in den Jahren 1905 bis 1907. Wir nennen ihn den Maji-Maji-Krieg. Das Maji war eine Medizin, ein heiliges Wasser, das unverwundbar gegen die Kugeln der Gewehre unserer Unterdrücker machte. Viele Völker in unserem Land, die bisher gegeneinander gekämpft hatten, vereinten sich nun gegen die Deutschen und ihre Helfer. Aber das Maji wehrte die Kugeln nicht ab. Viele von uns starben, sehr viele.

  Die Deutschen und ihre Askari konnten uns aber nicht besiegen. Das Land war zu groß, wir konnten uns immer wieder irgendwohin zurückziehen. Und so fingen sie an, alles zu vernichten: die Häuser in den Dörfern, alle Nahrungsmittel darin, die Äcker, unser Vieh, einfach alles. Es kam eine große Hungersnot, die Menschen waren so geschwächt, daß sie sich nicht mehr gegen die Wildtiere wehren konnten. Unsere Ahnen verhungerten nicht nur, sondern wurden von Löwen gefressen.

  Später, viel später nachdem die Engländer gekommen waren und unser Land 1960 unabhängig wurde, haben unsere Wissenschaftler von der neu gegründeten Universität Dar-es-Salaam Überlebende über all dies befragt. Nun wurde klar, daß ungefähr 300000 Menschen in dem Krieg ums Leben gekommen waren. Auch mein Großvater wurde befragt. Er hat als einziger aus seiner Familie überlebt. Seine Nachkommen, also auch ich, wuchsen dort auf, wo heute das Selous-Tierreservat ist, im Süden des Landes. Dieses heute bewunderte Tierparadies ist entstanden, weil so viele von uns starben. Der Krieg der Deutschen hat das Land entvölkert, und heute reisen sie hierher und erfreuen sich an einer unberührten Natur. Sie gehen auf die Pirsch, um Löwen zu beobachten. Die Vorfahren dieser Löwen haben meine Vorfahren gefressen.

  Der Wind frischt wieder auf. Odysseus meint, es könne einen Sturm geben. Er kennt sich mit dem Himmel aus über diesem Meer.

 

X.

 

 

  Solange ich noch etwas schreiben kann, schreibe ich.

  Wir sind jetzt in einem Sturm, der immer stärker zu werden scheint. Das Segel wurde verkleinert, es hat nur noch die Größe eines Handtuchs. So können wir wenigstens in eine Richtung fahren ohne einfach seitlich umzukippen.

  Was soll ich sagen?

  Ich habe mir eine große Plastikdose mit festem Deckel so hergerichtet, daß ich das iphon und das Schreibbuch wasserdicht verpacken kann. Vielleicht kann ich meine Geschichte irgendwo an Land zuende erzählen, vielleicht auch nicht. Ich schreibe lieber jetzt noch schnell das Nötigste auf.

  Die Polizei kam kurz nach der großen Regenzeit in unser Dorf, vor fünf Monaten. Sie suchten mich und fanden mich, nahmen mich mit. Unser Dorf soll verschwinden, weil ein ausländischer Konzern dort Uran abbauen will. Und die Regierung plant irgendwo ein Atomkraftwerk. Mit zwei anderen jungen Männern aus dem Dorf habe ich in Dodoma dagegen protestiert. Wir haben ein Schild gemalt, und wir sind zum Regierungsgebäude gegangen. Dort wurden wir festgenommen und in unser Dorf zurückgeschickt. Nach ein paar Wochen aber kamen sie wieder und haben uns abgeholt. Ich kam alleine in ein Gefängnis in Dar-es-Salaam.

  Vor einem Monat konnte ich von dort fliehen, ein Wächter half  mir, ihm hatte ich meine Geschichte erzählt. Nun muß ich aufhören.

  Wir sind alle in Allahs Hand.

 

Rainer Beuthel

 

  

 

 

 

 

 Die direkte Aktion

 

  Das Auto kam ihm bekannt vor.

  Manche hätten gesagt: es kam ihm „sofort bekannt“ vor. Doch das wäre übertrieben. Dieser weinrote Mercedes fiel in der langen Reihe der Oldtimer zunächst gar nicht auf. Aber irgendetwas brachte Torf dazu, den Wagen genauer zu betrachten. Da war eine Erinnerung…woran?  Autos diesen Typs hatte er tausendfach gesehen. Gebaut ungefähr 1970. Ein 220er mit vier Türen. Dieser hier hat ein Hamburger Nummernschild.

  Torf war auf seiner sonntäglichen Radtour zufällig auf das Gut Hemmelmark geraten, wo heute ein Oldtimertreffen stattfand.  Dutzende von Menschen durchstöberten die Reihe der auf Hochglanz polierten Fahrzeuge, umkreisten sie bewundernd. Torf erkannte einen DKW aus den fünfziger Jahren, einen Ford T4, einen Opel Olympia, einen Ford Taunus, vielleicht von 1960, sogar ein weißer Rolls Royce stand da, von unbestimmbarem Alter.

  Der paßt ja gut hierher auf diesen Adelssitz, dachte Torf. Prinz Heinrich von Preußen, der Bruder Kaiser Wilhelms des Zweiten, hatte kurz nach 1900 das alte Herrenhaus abreißen und ein neues im englischen Landhausstil bauen lassen. Heinrich war Marineoffizier in Kiel, im Ersten Weltkrieg Oberbefehlshaber der kaiserlichen Ostseeseeflotte, war autobegeistert, erfand einen handbetriebenen Autoscheibenwischer, ließ diese Idee patentieren. Nach der Novemberrevolution zog er sich hierher nach Hemmelmark zurück.

  Torf  umkreiste den in praller Sonne erglänzenden Mercedes. Keine Delle war zu sehen, keine Unebenheit im Lack, drinnen schufen tadellos gepflegte graue Sitzpolster eine behagliche Atmosphäre im Halbdunkel. Wer wohl Zeit und Geld hat, sich so was zu leisten als Dritt- oder Viertwagen? Solche Leute kennt unsereins nicht. Die heutigen Besitzer der hier ausgestellten technischen Wunderwerke dürften der gleichen Gesellschaftskaste entsprungen sein wie der hohe Heinrich.

  Ein Mann kam ums Heck des Mercedes gekurvt und sprach Torf an. Ob der Wagen ihm gefiele? Seine Körperhaltung, sein Blick – etwas Gönnerhaftes und Hochmütiges lag darin – ließen erkennen, daß er der Besitzer war. Er trug eine hellbraune Cordhose von noblem Schnitt mit Lederstreifen an den Taschenschlitzen, ein kleinkariertes Jackett, ein anthrazitfarbenes Hemd mit Rundkragen, beige Lederschuhe, an den Händen gleichfarbige Handschuhe, die die Finger ab dem Mittelgelenk frei ließen. Ihm folgte zögerlich ein braun-weiß gefleckter Hund mit sehr langen Ohren, traurigem Blick und kurzen Beinen.

  Torf brummte zustimmend und wußte im nächsten Moment, wer der Mann war und woher er den Wagen kannte. Er grinste leicht, blickte den Besitzer noch einmal kurz an und ging zum Hauptweg, der zu dem schmiedeeisernen Tor führte, durch das er den Innenhof des Gutsgeländes betreten hatte. Nach zwanzig Metern setzte er sich auf eine Bank und blickte zu dem Mercedes zurück, dessen Fahrertür nun offen stand. Der Besitzer hatte sich hineingesetzt und blätterte in einer Zeitschrift.

  Es war Kuddl, zweifellos: blonde Haare – jetzt mit Grau unterlegt – hellblaue Augen, der leicht ironische Zug um den Mund, gepaart mit einem Anflug von Brutalität, das kräftige Gebiß. Ohne den Wagen hätte Torf ihn vielleicht nicht erkannt. So außergewöhnlich sah er nicht aus, aber in der Kombination mit dem Mercedes war kein Irrtum möglich. Und dann war da dieser etwas kehlige, verschwommene Tonfall der Stimme, unverändert.

  Torf rechnete nach: es war fast vierzig Jahre her, 1976 oder 1977. Waren sie zu dritt oder zu viert gewesen? Sie fuhren in dem weinroten Mercedes von Hamburg nach Lübeck. Kuddl steuerte den Wagen, und er gehörte ihm auch, oder seinen Eltern. Aber niemand hatte das nachgefragt. Es war einfach bequem darin zu fahren, zugleich auch etwas komisch. Sie waren kommunistische Studenten, Mitglieder des MSB Spartakus, der Studentenorganisation der DKP, auf dem Weg zu einer Aktion in Lübeck, zu einer spontanen Demonstration, die aber nicht spontan, sondern vom MSB organisiert war. Die Demo sollte als spontane stattfinden, das war grundsätzlich erlaubt. Sie wurde ganz kurzfristig angemeldet, so daß sie nicht von anderen studentischen Gruppen vereinnahmt werden konnte, von Chaoten oder Jusos.

  Und jetzt saßen sie in einem Mercedes, einem Wagen, der als typisches Gefährt reicher Spießer mit eingebauter Vorfahrt galt, waren auf dem Weg zu einer Demo, die die Systemfrage stellte und die Hochschulpolitik der herrschenden Klasse in der BRD infrage stellte. Aber das durfte man nicht zu eng sehen. Das Bündnis zwischen fortschrittlichen Studenten und der Arbeiterklasse stand oder fiel nicht mit dem Typ Auto, in dem man zur Demo fuhr. Das Ganze hatte etwas Ironisches, war gewissermaßen eine Art Tarnung. Lenin hatte geschrieben, die revolutionäre Bewegung müsse sich die Mittel der herrschenden Klasse aneignen, um ihren Sturz zu befördern. Daß die Farbe des Luxuswagens  rot war, stand sicher nicht in Widerspruch zu den Zielen des MSB Spartakus und ließ sich als Ausdruck eines dialektischen Widerspruchs zwischen materieller Basis und Überbau aus dem Marxismus-Leninismus herleiten.

  Torf  erinnerte sich an einen dritten Wageninsassen, der an einem technischen Fachbereich der Fachhochschule Hamburg studierte. Er wurde „Schnacki“ genannt, schnackte aber fast nicht und trug immer eine alte Lederaktentasche mit sich herum, aus der er, wenn es notwendig war, alle wichtigen Unterlagen hervorholen konnte: aktuelle Flugblätter, Beschlüsse des Hamburger MSB-Vorstandes, auch Butterbrote oder was zu trinken. Schnacki hatte rötliche Haare und einen entsprechenden Vollbart, wirkte etwas versoffen. Es wurde erzählt, daß er schon mindestens acht Semester hinter sich hatte. Er fungierte als eine Art Adjudant Kuddls, und die beiden traten in ihren schwarzen Lederjacken häufig gemeinsam bei Versammlungen auf. Wenn jemand wußte, was momentan die richtige politische Linie war, waren es bestimmt diese beiden Genossen.

  Die richtige politische Linie verfolgte in den turbulenten siebziger Jahren an den Hamburger Hochschulen nicht nur der MSB Spartakus. Jede der diversen linken studentischen Organisationen war im Besitz der einhundertfünfzigprozentigen Wahrheit, die sich von der der anderen fundamental unterschied. Da waren die SPD-nahen Juso-Hochschulgruppen, der SHB, der SSB, also die Hochschulorganisation des Kommunistischen Bundes, der sich vom KBW abgespalten hatte, sowie eine Reihe kleiner Gruppierungen wie die trotzkistische GIM bis hin zu einer Organisation namens AAO, die ihr Heil darin gefunden zu haben glaubte, das gesellschaftliche Individuum durch Urschreitherapie umzuformen. Und es gab anarchistische Gruppen, die der Meinung waren, der Staat und die herrschenden Klassen sollten nicht durch legale Aktionen im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus angegriffen werden, sondern durch sofortige, direkte Aktionen, auch mit Gewalt. MSB, SHB und Jusohochschulgruppen bildeten innerhalb dieses Gefüges ein Bündnis mit Namen „Gewerkschaftliche Orientierung“, abgekürzt GO, mit dem Ziel, gemeinsam mit den Gewerkschaften für grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen zu kämpfen, und zugleich die jetzigen Studenten zum Eintritt in eine DGB-Gewerkschaft zu bewegen.

  Torf  blickte wieder zur Reihe der Oldtimer hinüber. Kuddl war aus dem Mercedes ausgestiegen und befand sich in lebhafter Unterhaltung mit einer Gruppe von Besuchern, die seinen Besitz mit bewundernden Blicken betrachteten. Was Kuddl damals an der Fachhochschule tatsächlich studiert hatte, wußte Torf nicht. Kuddl war jedoch einer von denen, die die politische Linie der GO und des MSB am entschiedensten und zuweilen äußerst rabiat und persönlich beleidigend gegenüber politisch Andersdenkenden vertrat. Ein Hundertfünfzigprozentiger. Und ausgerechnet der… Torf  blickte in den makellos blauen Himmel und schüttelte ein wenig den Kopf…Ausgerechnet der..

  Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er vor zwei Jahren mit einem ehemaligen Hamburger Genossen geführt hatte. Konrad war eine Zeitlang ASTA-Vorsitzender an der Fachhochschule gewesen und hatte Torf zum Eintritt in den MSB geworben. Nun trafen sie sich zufällig in der Eckernförder Fußgängerzone und sprachen über alte Zeiten. Irgendwann kam das Gespräch auf Kuddl. Konrad war wütend. Er habe sich sowas nicht vorstellen können, aber er habe erfahren, daß Kuddl seinerzeit für den Verfassungsschutz gearbeitet habe, exakt dieser Kuddl, der einer der aktivsten Genossen gewesen sei, immer vorne mit dabei, immer voll auf Linie bei der Verteidigung des Realen Sozialismus der DDR und der sozialistischen Perspektive hier in der BRD. Zum Kotzen. Konrad habe das aus sicherer Quelle erfahren. Es wäre mal interessant zu wissen, was aus diesem Arschloch geworden sei.

  Torf blickte zum Haupteingang des Herrenhauses hinüber. Durch eine Mikrophondurchsage wurde die Eröffnung eines bereits angerichteten kalten Büffets mit Snacks und Getränken  angekündigt. Doch zunächst sollte der Organisator des heutigen Oldtimertreffens, ein ehemaliger Ratsherr der CDU aus Eckernförde, zu den Anwesenden sprechen. Die meisten Besucher und Autobesitzer waren jetzt auf dem Weg dorthin oder standen bereits vor den Tischen in froher Erwartung des Kommenden.

  Torf stand von der Bank auf und ging auf dem Kiesweg in die Richtung der Menschenansammlung, die Hände in den Hosentaschen. Er sah Kuddl dort stehen inmitten der Gleichgesinnten, sah seinen weißblonden Haarschopf und seine Schultern mit dem karierten Jackett. Alle blickten nach vorne. Torf ertastete  mit der rechten Hand in der Hosentasche einen Nagel. Es war einer der vierzölligen Eisennägel, die er gestern bei der Reparatur des Fahrradschuppens in seinem Garten verwendet hatte. Die Arbeit war nicht ganz fertig geworden, vielleicht war dies der Grund, daß er den Nagel einfach in der Tasche gelassen hatte. Aber darüber dachte er in diesem Moment nicht nach. Er tastete nach der Spitze. Er hatte sie noch nicht mit dem Hammer stumpf geschlagen, wie er es immer tat, wenn er einen Nagel in Holz schlug. Er umfaßte den Nagel, bohrte die Spitze vorn in die Innenseite seines Daumens und näherte sich dem Wagen, der vor dem Mercedes in der Reihe stand.

  Als der ehemalige Ratsherr der CDU zum Test ins Mikrophon blies und behauptete, er sei eigentlich kein guter Redner, bog Torf in den Zwischenraum der beiden Wagen ein. Er holte die Hand mit dem Nagel hervor, setzte die Spitze mit Druck auf den Kotflügel des Mercedes auf und bewegte sich in Richtung des Hecks. Es ertönte ein knarzendes, andauerndes Geräusch, das von der nun laut einsetzenden Rede übertönt wurde. Niemand war mehr in Torfs Nähe.

  Er ging zu seinem Fahrrad, das an einen Baum an der Seite des Platzes gelehnt stand. Von ferne muß  sein Gehen wie ein gemächlich-entspanntes Schlendern ausgesehen haben. Er setzte seine Sonnenbrille auf, schob das Rad durch den Haupteingang und fuhr zurück nach Eckernförde. Er hatte den Nagel zurück in die Hosentasche gesteckt. Er nahm sich vor, die Reparatur des Schuppens in den nächsten Tagen zuende zu bringen.

  Er würde den Nagel nicht einfach zur Reparatur des Schuppendachs verwenden, sondern zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Sonntag als Garderobenhaken zum Aufhängen seines Fahrradregenumhangs.

 

 

 

 

Hotel Höltje

 

  Zurück in Verden. Eine Seltenheit.

  Ich saß auf einer der Bänke am Allerufer schräg unter der Südbrücke und dachte nach über dieses Wort „Seltenheit“.  Es hat etwas Erhabenes, wie „Wahrheit“ oder „Hoheit“. Gegrüßt sei ihre Hoheit, die Seltenheit.

  Eine Bewegung links von mir schob sich in meine Gedanken. Jemand setzte sich auf die andere Bank. Augenwinklig saß dort ein Schemen, eine Frau. Ich sah genauer hin; sie blickte nach unten aufs Wasser. Ich sah auf die Stelle im Wasser, auf der ihr Blick ruhen mußte, erblickte einen kleinen Ast, folgte ihm nachblickend unter die Brücke, wo er verschwand. Ich wandte meinen Kopf zurück nach links; die Frau blickte jetzt hinüber zum anderen Ufer.

  Kurze schwarze Haare mit etwas Grau, Blue Jeans, helles Hemd oder Bluse? Was ist der Unterschied?  Wenn ich jetzt länger hinsähe, würde sie es sofort merken. Dann würde sie irgendwas in ihrem Gesicht rümpfen, sich nach links wenden. Oder sie blickte her zu mir, und es hülfe nichts, wenn ich so täte, als würde ich eigentlich über sie hinwegsehen hinüber zu einem fernen Punkt hinten in den Wiesen von Hönisch. Frauen wissen, daß das nur Show ist.

  Es geschah aber nichts, kein Rümpfen oder Kräuseln, kein Kopfwegdrehen, kein Herblicken. Wäre ich noch regelmäßiger Raucher, hätte ich mir jetzt eine Zigarette angezündet.

  Sind Männer so strukturiert, daß sie glauben, es müsse in so einer Situation immer irgendwas passieren? Eine Kontaktaufnahme, ausgehend natürlich von ihm? Ich blickte gerade versunken in diesen Gedanken hinüber zum Pfadfinderheim, als oben auf der Brücke ein Geschrei losging. Ein Wagen hatte auf der einspurigen Überquerung angehalten, der Fahrer war ausgestiegen und brüllte einen anderen Mann an, der ein Fahrrad bei sich führte und kleinlaut am Geländer lehnte.

  Ich sah nach links zu der Frau auf der Bank, und sie sah mich an und grinste schemenhaft. Oben auf der Brücke hörte man nun den Radfahrer reden, es klang entschuldigend, aber zunehmend in auftrumpfendem Tonfall; ich wollte etwas zu der Frau sagen und merkte, daß der Abstand zwischen den Bänken zu groß war um verstanden zu werden, ohne daß ich etwas gerufen hätte. Ich schüttelte den Kopf, stand auf und ging zu ihr hinüber. Ich entdeckte dunkle Augen; sie grinste nicht mehr, hatte etwas eher Spöttisches im Gesicht, als Zusammenspiel von Stirn, Augenbrauen und Mund.

  „Was war denn da?“ fragte sie.

  „Es ist wohl einer bei Rot gefahren. Es darf aber immer nur einer in einer Richtung.“

  „Ach so, naja.“

  Es klang so, als wolle sie sagen: Gibt Schlimmeres.

  „Gibt Schlimmeres“, sagte ich. Die Streitenden auf der Brücke hatten sich bereits voneinander entfernt.

  Anstatt zu antworten, fummelte sie eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche ihrer Bluse, zog sich eine raus und hielt mir die Schachtel hin. Rothändle ohne Filter.

  „Auch eine?“

  „Nein, danke, rauche nicht mehr. Aber Feuer kann ich Ihnen geben.“

  „Besser, man hat das immer dabei, was?“

  Ich blickte sie an, und es sah vielleicht irgendwie ironisch aus, jedenfalls lächelte sie genau so zurück. Ich ließ mein Feuerzeug aufschnappen, und sie machte nicht den Fehler, meine Hand zu berühren oder zu halten, während sie die Zigarette anzündete, sondern blieb wie selbstverständlich auf Abstand. Hätte sie die Haare lang getragen, wären sie über meinen Arm gestrichen, so aber blieb sie vorerst ein Wesen, daß sich leicht entfernt von mir im Raum bewegte.

  Wir saßen eine Weile so da; ich blickte ins Wasser, vermutlich tat sie das Gleiche. 

  „Es ist komisch“ sagte sie.

  „Komisch? Was?“

  „Ich glaube, wir kennen uns schon.“ Sie blickte jetzt sehr neutral, aber die Stirn kraus.

  „Kann natürlich sein, aber ich weiß nicht, mir fällt nichts ein. Kommen Sie von hier?“

  „Nein, aber ich war früher häufiger in Verden, vor langem, in den siebziger Jahren. Ich hatte einen Freund hier, Klaus. Heißt Du nicht Rainer?“ Jetzt schien das Wasser im Fluß irgendwie schneller zu strömen, ein Gefühl breitete sich in mir aus, vom unteren Rücken aufsteigend in Richtung Herz.

  „Stimmt. Aber was für ein Klaus?“

  „Klaus Wunder. Du warst mit seinem Bruder enger befreundet, Horst.“

  „Stimmt auch.  Wir gehörten alle zu der Clique um Uli, Schorse, Plumps, und trafen uns immer oben unterm Dach in Horsts Zimmer. Jetzt erinnere ich mich an Dich. Du warst ein paar Mal dabei, mit Klaus, wenn er aus Göttingen zu Besuch war.“

  „Ja, Ihr wart auch häufig in Rotenburg, in einer Diskothek.“

  „Club Europa.“

  „Genau.“

  „Das ist ja irre, Dich hier zu treffen. Hier saß damals täglich von Frühling bis Herbst die ganze Verdener Kifferszene am Ufer. Aber – ich weiß überhaupt nicht mehr, wie Du heißt.“

  „Inge.“

  „Inge. Total vergessen. Das ist aber auch ewig her. Und damals hattest Du lange Haare.“

  Sie antwortete nicht und blickte auf irgendeinen Punkt im Himmel, der nur für sie da war.

  „Damals bei Euch ging es fast immer und hauptsächlich um Stoff“, sagte sie.

  „Ja, stimmt. Vorher waren wir alle ziemlich politisch gewesen. Die NPD kandidierte 1969 zur Bundestagswahl. Es gab einen Polizisten hier in Verden, der war dabei. Sein Sohn war eine Zeitlang mit mir in eine Klasse gegangen am Domgymnasium. Die Nazis hielten Wahlveranstaltungen ab im Hotel Höltje, die versuchten wir zu stören, mit mehr oder weniger Erfolg. Übrigens fanden dort auch immer die Tanzstunden für die Gymnasiasten statt.“

  „Klaus hat mir von alldem erzählt. Da studierte er aber schon in Göttingen.“

  „Und zu dieser Zeit, eigentlich schon etwas vorher, ging es los mit dem Stoff. Das Politische kippte irgendwie um in diese Shit- und Tripsache. Irgendwann ging es nur noch darum, wer was hat oder von wo was kriegt oder wer was von wo holen fährt. Einige in der Clique fingen dann auch noch mit Trips an. Ich ging dann nach Göttingen zum Studieren.“

  „Da sind wir uns dann wieder begegnet.“

  „Stimmt. Da bin ich dann in das Zimmer gezogen, was Klaus bis dahin bewohnt hatte. Und da habt Ihr mich dann mal besucht. Das Zimmer lag ebenerdig, direkt zur Straße. Der Vermieter war ein Leichenbestatter, das Beerdigungsinstitut war hinten im Haus. Weißt Du das noch?“

  Sie antwortete nicht, nickte leicht, und zog wieder eine Zigarette hervor. Ich kam nicht dazu, ihr Feuer zu geben, denn sie hatte plötzlich eine Streichholzschachtel in der Hand. Im Nu flammte das Hölzchen auf.

  „Warum bist Du eigentlich nach Göttingen gegangen?“ fragte sie.

  „Eigentlich hing es zunächst mit meinem Vater zusammen. Er hatte da studiert, in den dreißiger Jahren, war in einer Burschenschaft, Frisia hieß die, eine schlagende Verbindung, die gibt es immer noch. Er hatte dann den Status eines Alten Herrn, war immer in Kontakt zu der Burschenschaft geblieben. Nachdem ich 1969 Abitur gemacht hatte, entstand natürlich die Frage, wie es mit mir weitergehen sollte. Daß ich studieren würde, stand außer Frage. Mein Vater hatte die Idee, ich könnte mal ein paar Wochen in dem Haus der Burschenschaft wohnen, um mir alles anzusehen, die Stadt, die Universität. Insgeheim hoffte er wohl, ich würde Mitglied bei den Göttinger „Friesen“ werden. Ich wohnte zwei Wochen in deren Burschenschafterhaus, kehrte nach Verden zurück. Diese Burschenschaft war nicht meine Welt. Ich beschloß aber, Geschichte und Englisch zu studieren, mit dem Ziel, Lehrer zu werden wie mein Vater. Kann auch sein, daß Klaus mir Göttingen nahebrachte. Ich zog dann in sein Zimmer, das er loswerden wollte; ich denke, das war im Oktober des Jahres. Vielleicht habe ich Dir das damals alles schon mal erzählt.“

  „Das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich aber an unseren Besuch bei Dir in dem Zimmer.“

  „Das muß etwa im November gewesen sein.“

  „Kann sein, das ist aber unwichtig.“ Sie drehte den Kopf  zu mir und blickte mich an. „Dir ging es an dem Abend nicht gut.“

  „Ja, stimmt. Das vergesse ich auch nicht.“

  „Wie war das denn noch?“

  „Klaus und Du kamen irgendwann. Er kannte dieses Zimmer ja in und auswendig, du wahrscheinlich auch, und Ihr setztet Euch gleich zusammen auf die Schlafcouch. Draußen war es schon dunkel. Wir tranken – glaube ich – Tee, und ich hatte einen Kuchen, den mir meine Mutter geschickt hatte, so eine Art Sandkuchen mit Rosinen drin und Sultaninen.“

  „Das weißt Du ja noch ziemlich genau, Rainer.“

  „Ja, aber vorher gab es Shit. Klaus hatte ein ziemlich starkes Zeug dabei, Afghane wahrscheinlich. Das Zeug knallte richtig rein. Wir redeten über alles Mögliche. Allmählich geriet ich in einen Rausch. Mir ging `s wahnsinnig gut. Du weißt ja, wie man dann Hunger bekommt, richtigen Heißhunger; wir brachen den Kuchen an. Ich schnitt ihn mit einem Brotmesser auf. Ich sehe den Kuchen da noch vor mir liegen auf dem niedrigen Sofatisch, das Messer daneben. Es schmeckte wunderbar, und in mir und vor mir sah ich sprühende Lichtpunkte in allen Farben wie bei einem Feuerwerk. Ich dachte an den bremer Freimarkt, an rasende Karussels, deren Lämpchen sich im Kreise drehten. Wahrscheinlich hörten wir irgendwelche Musik, vielleicht Pink Floyd, ich weiß nicht mehr. Wir sprachen dann kaum noch zu dritt miteinander; ihr lagt umarmt auf dem Sofa und unterhieltet Euch leise. Du fragtest Klaus irgendwas, und er antwortete laut und schroff: ‚Nix, kommt nicht in Frage.‘ Ich wußte nicht, worum es ging, hatte aber das Gefühl, daß Ihr Euch über mich unterhieltet. Und dann kam das Messer ins Spiel. Es lag vor mir neben dem Kuchen auf dem Tisch. Und ich vermeinte aus Eurem anschließenden Geflüster etwas Bedrohliches herauszuhören. Ihr wolltet mich umbringen. Ich war mir ziemlich sicher.“

  „Das ist ja verrückt. Wie kamst Du denn darauf? Das hast Du mir später nicht erzählt.“

  „Nein. Das war ja auch eine irre Phantasie. Jedenfalls bin ich dann zum Fenster gegangen; draußen wurde es schon hell. Oder nein: es war wohl noch dunkel, aber als ich zurückkam, war es hell… Jedenfalls habe ich das Fenster aufgemacht, bin über die Fensterbank gestiegen, auf den Gehweg gesprungen – er war ja nicht tief unten, sondern praktisch auf der Höhe des Fußbodens im Zimmer – und dann bin ich losmarschiert, bin vor denen die mich ermorden wollten, geflohen.“

  Sie schüttelte den Kopf. Dann blickte sie mich mit etwas zweifelndem Blick wieder an. „Muß an dem Shit gelegen haben. Oder hattest Du vorher schon mal so eine Phantasie? Oder später?“

  „Nein.“

  „Ich erinnere mich, daß Du plötzlich verschwunden warst. Klaus und ich sind dann irgendwann gegangen.“

  „Ich muß stundenlang rumgelaufen sein. Ich weiß noch, daß ich durch Parks ging und über eine Art Wallanlage. Als ich durchs Fenster zurückkletterte, war es jedenfalls hell. Ihr wart weg. Du kamst dann nach ungefähr einer Woche mich besuchen. Ich glaube, ich hatte Klaus schon irgendwann getroffen, aber jetzt kamst Du allein.“

  „Ja, und? Was meintest Du, warum?“

  „Ich glaube, Du hattest irgendwas vergessen in der Nacht, irgendeinen Gegenstand. Den wolltest Du holen. Angeblich.“

  Inge lachte zum ersten Mal seit wir uns jetzt wiedergetroffen hatten. „Du hast nichts kapiert, oder?“

  „Ich sehe Dich noch vor mir, wie Du kamst, wirktest ein bißchen geheimnisvoll. Hast mich allerlei gefragt, fürsorglich. Ich war einfach ein bißchen blöd, und grundsätzlich schüchtern. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß Du schöne Frau wegen mir kamst und nicht wegen irgendwas Vergessenem, das Du vielleicht  absichtlich liegen gelassen hattest. Naja, so war ich eben.“

  „Wie ging es denn mit Dir weiter? Du bist doch zurück nach Verden gegangen?“

  „Ja. Ich hab die ganze Situation nicht bewältigt, konnte in Göttingen nicht Fuß fassen. Tollerweise haben wir an der Uni gestreikt, wegen irgendwas ganz Grundsätzlichem. Das Semester war verloren. Mit dem Studium lief es also nicht, und Freunde hatte ich nicht, die waren in Verden. Eine Freundin hatte ich schon gar nicht. Ich ging dann im Januar zurück nach Verden.“

  „Zu Mutti.“

  „Ja, Scheiße, das ist eigentlich peinlich, aber so war es. Und ich hatte dann in Verden noch so einen Horrortrip auf schwarzem Afghanen, dann hab ich mit dem Shit ganz aufgehört. Ich hing fast nur noch so rum, ganz viel hier unten an der Aller. Meinen Eltern wurde das alles irgendwann zu bunt. Mein Vater hat mich quasi bei einem Buchhändler in der Stadt zur Lehre angemeldet. Das war gut, danach ging es bergauf. Was ist aus Dir geworden?“

  „Ich hab ja immer gearbeitet, nicht studiert. Hatte also mein Geld. Von Klaus hab ich mich irgendwann getrennt.“

..“Das hab ich damals noch mitbekommen. Und was machst Du jetzt hier in Verden, Inge?“

  „Hab eine alte Freundin besucht. Es ist auch schön, das alles hier wiederzusehen, die Altstadt, die Aller… Und Du?“

  „So ähnlich. Ab und zu muß ich mal wieder hier sein. Auch einfach wegen der Aller.“

  Inge schweigt eine Zeitlang, blickt auf die gekräuselte Wasserfläche. Ich sehe wieder einen Ast vorüberschwimmen, er dreht sich leicht in einem Strudel.

  „Rauchst Du denn gar nicht mehr, Rainer?“

  „Hab ich doch gesagt.“

  „Naja, ich meine Shit. Hast Du es nie wieder versucht?“

  „Doch, ja, viel später. Mir ist klar geworden, daß meine Horrortrips mit meiner beschissenen Lage damals zu tun hatten, mit dem Alleinsein. Später, viel später lernte ich eine Frau kennen, mit der ich lernte, damit umzugehen. Es kommt auf die Dosis an, und ob man sich gut fühlt, geborgen. Mit ihr war das so.“

  „Sag mal...“

  „Ja?“

    Auf Inges Gesicht trat ein neuer, sanft-interessierter Ausdruck.  „Wollen wir nicht… Ich hab was da, bei mir.“

  „Wo wohnst Du denn. Bei deiner Freundin?“

  „Nein. Im Hotel, bei Höltje. Du kannst doch mitkommen, wenn Du willst.“

  „Bei Höltje wohnst Du… okay…“

  Wir sahen uns an. Ich sah die Frau, die mich zusammen mit Klaus ermorden wollte. Sie lächelte, dann lachte sie. Und ich weiß nicht, was mein Gesicht machte, es war wohl etwas zwischen Lächeln und Verwunderung.

  Jedenfalls gingen wir dann zum Hotel Höltje.

 

 

 

Der Plan

 

I.

 

  Letzten Monat habe ich einen Mann kennengelernt, Torf. Wer weiß, was daraus wird. Es könnte aber was daraus werden.

  Ich war zu einem Treffen gegangen in einer Kneipe, angekündigt in einem Szeneblatt als „Schriftstellerstammtisch“. Ein neuer Versuch, hieß es. Also hatte es schon einen oder mehrere Versuche gegeben. Etwas neugierig zu erfahren, was dort versucht werden würde, ging ich also hin. Es konnte ja nicht schaden.

 

II.

 

  Die Leute da schienen sich fast alle schon zu kennen ohne zu sagen woher. Das würde sich sicher noch alles herausstellen. Ich kannte niemanden und war die einzige Frau. So wurde ich wohl doppelt interessant.

  In der männlichen Selbstdarstellergalerie wurde nun allerlei ausgestellt: wer schon überall was veröffentlicht hatte, in Anthologien, Zeitschriften, im Selbstverlag, neuerdings vermehrt online in allerlei Blogs und Foren. Wahrscheinlich glaubten sie, ich sei ganz neu in der Branche und hätte Angst zuzugeben, daß ich zwar schriebe, aber ohne jemals etwas veröffentlicht zu haben. Also fragten sie nicht.

  Einer unter ihnen war still. Er trank von seinem Bier und kritzelte zwischendurch in einem Notizbuch. Er sagte, er hieße Torf. Wir beide blieben als letzte übrig in der Runde. Nachdem die Kneipe geschlossen hatte, brachte er mich zum Bus.

 

III.

 

  Wir haben uns nach ein paar Tagen wieder getroffen, in einem Café, verabredet per e-mail. Er erzählte sehr viel über sich, wie Männer das tun zu Anfang. Später werden sie meistens verschlossener, müssen sich wieder schützen. Er sagte, er schriebe an mehreren Texten gleichzeitig. Davor habe er eine lange Blockade gehabt, warum, wisse er nicht. Das sei rätselhaft.

  Woran ich schrieb, sagte ich ihm besser nicht. Bis heute habe ich ihm auch weder meine Adresse noch Telefonnummer gesagt. Er meint, das sei auch nicht so wichtig. Ich weiß von ihm fast alles. Vorgestern sagte er, er würde täglich über den Tod nachdenken. Vor allem über seinen eigenen. Aber darüber schreiben könne er nicht. 

 

IV.

 

  Torf glaubt, daß ich verheiratet bin. Mein Mann sei grundsätzlich eifersüchtig und würde bald etwas herausfinden, wenn wir nicht vorsichtig wären. Torf glaubt mir anscheinend alles. Er ist sicher verliebt. Das ist ein schönes Gefühl. Es gibt mir eine Art Sicherheit bei dem was ich tue und von dem er nichts weiß.

 

V.

 

  Der Verleger sagt, er habe sich nicht in mir getäuscht. Eine Reihe von Berufsjahren im Journalismus sei immer eine gute Basis für einen Ghostwriter. Der bisher vorliegende Text wirke schon sehr authentisch, wie von Blender selbst verfaßt. Sehr kompakt, sehr professionell. Der Spitzname „Blender“ war dem Verleger vor zwei Jahren gleich während unseres ersten Gesprächs eingefallen, als es darum ging, ob ich die Richtige sei, die Autobiographie des Außenministers zu schreiben.

 

VI.

 

  Heute hat Torf mir Genaueres über seine Todesphantasien erzählt. Das Ganze habe sich nach und nach immer mehr in sein Leben geschlichen.

  Als Kind habe er den Tod zunächst in Erzählungen über das Sterben anderer wahrgenommen: Großeltern, die er nie kennengelernt habe, ein Onkel, der im Krieg gefallen war. Nach Überwinden religiöser Vorstellungen von ewigem Leben habe er geglaubt, er werde nach seinem Tod durch das was er im Leben geleistet habe und in Erinnerungen anderer gewissermaßen weiterleben. Als Erwachsener habe er über all dies zunächst wenig nachgedacht, weil noch viel Lebenszeit vor ihm gelegen habe. Wenn schon, habe er eher Angst vor dem Sterben als vor dem Tod gehabt. Jetzt habe sich dies umgekehrt: wer unter Schmerzen stirbt, erlebt es ja noch; aber danach sei alles auf immer vorbei – eine schreckliche Vorstellung.

  Zu seinem siebzigsten Geburtstag habe er von seinen Töchtern ein Originalexemplar einer Zeitung erhalten, die am Tage seiner Geburt in seiner Geburtsstadt erschienen sei. Darin gelesen habe er noch nicht. 

 

 

VII.

 

Torf ist verheiratet und lebt mit seiner Ehefrau. Zum Glück sind seine Kinder erwachsen und leben woanders. So besteht kaum Gefahr, eine junge Familie zu zerstören. Das ist immer das Schlimmste.

  Ich weiß nicht, von wem es ausgeht, von ihm, von mir… Dreißig Jahre jünger zu sein, ist… komisch? merkwürdig? eigenartig? bedenklich? beängstigend? verstörend? oder: entlastend, weil es ja sowieso kaum eine Zukunft hat? oder eine kurz andauernde?

  Jedenfalls… ist da jetzt etwas…Aber ich will das L-Wort nicht benutzen. Es paßt vielleicht eher in die Autobiographie eines Ministers, der seine große Aufgabe liebt.

 

VIII.

 

  Vor zwei Wochen war ich bei einer ärztlichen Routineuntersuchung. Ich hatte zuvor schon Schmerzen verspürt im Bauch und Rücken, es aber versucht zu ignorieren. Der Arzt überwies mich an einen Spezialisten; er stellte ein Karzinom fest. Es hat schon gestreut. Es ist eine Krebsart, die sehr schnell voranschreitet. Der Spezialist gibt mir noch etwa ein halbes Jahr. Es sei aussichtlos. Ich habe Torf nichts davon erzählt und werde es weiterhin so halten.

  Das Manuskript werde ich fertigstellen können. Die Interviews mit dem Blender liegen vor, weitere Recherchen sind nicht nötig. Torf wird später beeindruckt sein, wenn er meinen Namen auf dem Titelblatt liest, als Co-Autorin. Irgendwer wird ihm sagen, daß der Blender überhaupt nichts geschrieben hat, sondern alles von mir stammt.

  Aber dann werde ich nicht mehr leben.

 

IX.

 

  Torf und ich haben uns getroffen und sind mit seinem Wagen aus der Stadt hinaus in die Landschaft gefahren. Es war schon etwas herbstlich, die Sonne stand nicht mehr so hoch, aber es war warm.

  Wir lagen eng zusammen im hohen Gras über der Kanalböschung und ließen die Schiffe vorüberziehen. Er hat wieder von seiner Todesangst angefangen. Daß er zuweilen nachts aufwacht und sich vorstellt, was wäre wenn er nicht mehr vorhanden sei auf immer und ewig; das könne eigentlich nicht sein, dieses für immer vorbei. Daß es aber keinen Ausweg daraus gebe, denn die religiösen Lösungen seien Selbstbetrug aus Furcht vor diesem Nichts. Ihm täten die Menschen leid, die die Wahrheit nicht ertragen könnten. Andererseits seien sie vielleicht weniger beunruhigt als er, hätten eine Lösung gefunden, die ihnen Trost biete.

  Ich habe mir das zum wiederholten Mal alles angehört. Mir fällt dazu nichts ein. Vielleicht hilft es ihm ein wenig, wenn ihm irgendwer einfach zuhört. Er sagt, mit seiner Frau könne er darüber nicht sprechen.

  Ich muß aufpassen, daß er mich nicht beim Einnehmen der Medikamente erwischt. Es sind sechs verschiedene Tabletten, die ich dreimal am Tag schlucke.

 

X.

 

  Ich werde mit Torf schlafen. Er ahnt es sicher schon, denn er weiß, daß wir Frauen diese Entscheidung treffen, auch wenn Männern es anders erscheint. So klug ist er schon. Er weiß auch, daß er nicht diese Art von Frauentyp ist, die sich alles erlauben kann. Das schätze ich an ihm. Er weiß sehr viel über sich.

  Es wird in einem Hotel sein, denke ich. Ein ganzes Wochenende lang. Es wird sehr schön sein. Ich schicke ihm eine mail mit allen Informationen. Seiner Frau wird er irgendeine Geschichte erfinden, ein Schriftstellertreffen in irgendeiner Großstadt oder ähnliches.

  Und danach werde ich ihn nicht mehr sehen.

  Ich werde alles zuende bringen.

  Ich könnte ihm noch einen Brief schreiben und ihn bitten, alles aus seiner Sicht aufzuschreiben. So würde ich sozusagen weiterleben, oder wir würden weiterleben. Es liegt dann alles in seiner Hand.

 

  

 

 

Aufschub

 

Meine vorläufigen Tode

Schwarze Larven

Entpuppen sich

Zu Schmetterlingen

 

Jedesmal

Fliegt mein Leben froh

Wieder davon

 

 

 

Sønderho I

 

Es wäre so

Wie Wolken weiß

Im Himmelblau

Vorüberziehn

 

Der Wind durch Dunkelgrün

Von Bäumen Büschen tobt

Und Sonne heiß

Auf meine Stirn

Herunter brennt

 

Nichts sonst -

Dann könnt' ich

Gehn

 

 

 

Sønderho II

 

Decksbalkenschielen

Unter altem Reetdach

Kleine Menschen

Lebten hier früher

Ich setze mir

Einen Hut auf im Haus

Als Schutz

Und alles riecht noch

Nach Kuhstall

 

Draußen an den Fahnenmasten

Weht nirgends eine Flagge der Deutschen

Dahinter am Strand versinken noch

Ihre Bunker

 

 

 

Sønderho III

 

Oben im Blau

Fremde Insel

Mehrere Kontinente

Clownsgesicht

Schneelandschaft

Irrwisch mit Häkchen

Einhornherde

Korallenturm

Jedes sieht anders aus

Und sind alle gleich

Wolken

 

 

 

Der Hahn Erdogan

 

Ostfriesen lebten einst gefährlich

Als Witzfiguren unentbehrlich

Ein Menschenschlag den jeder kennt

Und alles ohne Präsident

 

Sie hatten keinen Erdogan

Der ihnen gern als Gockelhahn

Von morgens früh bis abends spät

Das Lied von Deich und Watt gekräht

 

Und hätte ihnen alle Zoten

Und Lachen über ihn verboten...

Den hätten sie gewiß verachtet

Und eines Abends still geschlachtet

 

Und rasch verspeist. Jedoch ich frage:

Wär' dies die Lösung heutzutage?

Die Menschheit könnte sich besessen

An Diktatoren überfressen

 

 

 

 

das gerücht

 

es ist was passiert

nicht hier

woanders

zum glück

sonst wäre es schlimm

sehr schlimm

so aber auch

ist es schlimm genug

 

das stimmt gar nicht

sagt jemand naja

es hätte aber

passieren können

auf jeden fall

bei diesen leuten

es sind einfach zu viele

da muß was passieren

 

sie hätten es getan

bestimmt

allein die möglichkeit

das reicht schon

es wäre sowieso passiert

früher oder später

wem das nicht reicht

hat selber schuld

 

 

 

 

 

 

Kongreß der Fluchtursachen

 

 

Meine Damen und Herren,

 

  setzen Sie sich. Ah - ich sehe, Sie sitzen schon. Herzlich willkommen!

 

  Ich bitte um Ruhe. Wir sind doch hier nicht im Erstaufnahmelager. Jeder kommt zu seinem Recht. Also bitte beruhigen Sie sich. Danke.

 

  Es ist wundervoll, daß so viele gekommen sind. Bis vor kurzem hat es gar nicht danach ausgesehen. Man war verzagt und lustlos, schämte oder fürchtete sich gar. Aber warum denn? Haben wir dies nötig? So rufe ich es heute laut aus, damit alle in diesem Land es hören können: Herzlich willkommen zum ersten bundesweiten Kongreß der Fluchtursachen!

 

  Daß wir uns öffentlich treffen und unsere Interessen formulieren und vertreten wollen, lag in der Luft. Wer wöchentlich, ja täglich hören muß, daß man ihn bekämpfen will, der darf wohl auch einmal etwas dagegen sagen. Frau Merkel, hier sind wir, von denen sie ständig reden, wir sind stolz auf uns als Ursache, und lassen uns folglich aus diesem Land nicht vertreiben. Wohin sollen wir denn gehen? Danke, danke für den herzhaften Beifall.

 

  Daß wir uns nun organisieren, ist auch eine Frage des Gemeinwohls. Wenn jeder das sagt, was man ja wohl einmal sagen darf, ist damit allen gedient. Wir wollen hier nicht von Einzelinteressen reden, wir blicken auf das Große und Ganze, auf das große "wir", denn Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Wie bitte, was rufen Sie da? Das stehe so auch im Programm der NSDAP von 1920? Wer sind sie denn? Haben Sie sich bei der Mandatsprüfungskommission als Fluchtursache überhaupt angemeldet? Nun - wir werden das prüfen. Bleiben Sie vorerst sitzen. Sie erfahren bald, ob wir Sie als Kongreßteilnehmer anerkennen können. Wie bitte? Danke - keine Ursache. Wir schaffen das.

 

  „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger", so soll einmal unser unvergessener Bundespräsident Heinrich Lübke bei einem Staatsbesuch 1962 in Liberia eine Rede begonnen haben. Was immer auch daran gewesen ist, ich scheue mich nicht, Ihnen zuzurufen: "Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Ursachen!" Und somit komme ich zur Begrüßung einiger besonders liebenswerter Gäste.

 

  Ich begrüße die Vertreterinnen und Vertreter der Firmen Diehl Defence, Airbus Group, Kraus-Maffei Wegmann, Heckler & Koch, Rheinmetall, Thyssen-Krupp, Tognum AG, Männer und Frauen aus den Firmenleitungen, Aufsichtsräten, Betriebsräten, die beispielhaft und in echtem Gemeinsinn dafür sorgen, daß deutsche Rüstungsgüter in alle Welt verbracht werden und dort dafür sorgen, daß diese Welt von Tag zu Tag mehr zusammenwächst. Ein herzliches Willkommen auch an den hier unten in der ersten Reihe sitzenden Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, die sich seit vielen Jahren ganz selbstlos als gemeinnütziger Verein für die staatliche Sicherheitsvorsorge Deutschlands engagiert. Ich sehe noch viele andere hier im Saal versammelt, die sich um diese schöne Gemeinschaftsaufgabe kümmern und kann sie gar nicht alle nennen. Schön, daß Sie da sind! Nicht alle Fluchtursachen sind so klar zu erkennen, Ihnen sieht man es wahrlich an!

 

  Wen soll ich alles nennen, wen ausdrücklich begrüßen? Wir kennen uns doch alle und arbeiten vielerorts und mannigfaltig zusammen. Ich sehe etwa dort in der zweiten Reihe von vorn einige bekannte Gesichter aus der Lebensmittelindustrie, Persönlichkeiten, die mit einem Gefühl echter Fürsorge für die Ärmsten dieser Welt all das was hier in diesem unserem satten Lande nicht verwertet werden kann, zu günstigen Preisen in die Entwicklungsländer des Südens bringen, um dort den alltäglichen Hunger zu bekämpfen. Daß dabei einige vorsintflutliche Landwirtschaftsbetriebe vor Ort weichen müssen, dürfte jedem einsichtig sein. Keine Ursache ohne Wirkung. Es ist genug für alle da. Kein Fortschritt ohne Folgen. Seien Sie willkommen!

 

  Und dann auch alle andern, Verbraucherinnen und Verbraucher, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Aktionärinnen und Aktionäre, überhaupt alle, die von der starken Stellung Deutschlands als Exportweltmeister profitieren, eine Stellung, die es nun einmal erfordert, daß wir unsere Interessen weltweit mit vielerlei Mitteln vertreten und den einen oder die andere infolgedessen dazu bringen müssen, uns nun aufzusuchen, um einen scheuen Blick auf all das zu werfen, was fleißige Hände hierzulande erwarben. Viele von denen, die nun zu uns kommen, werden schon bald, ich hoffe: möglichst bald sich selbst in der einen oder anderen Weise im Kreise der Fluchtursachen wieder finden. Helfen wir ihnen dabei. Es wird zu unser aller Besten sein.

 

  Und nun: Feuer frei! Sie haben das Wort....

 

 

 

 

 

die scham

 

 früher wenigstens trennten uns mauern.

 die mauern waren hoch und häßlich, man wußte genau was sich dahinter befand. dieses wissen bot sicherheit. man mußte nicht einmal seinen augen trauen.

 wir besaßen wenig, aber wir besaßen unsere mauern.

 gelangte jemand aus irgendeinem grund hinter so eine mauer, sei es von der einen, sei es von der anderen seite, konnte er sich nur wundern, wie wenig die anderen dort drüben über sich, dafür umso mehr über ihren gast und dessen welt wußten. die gastgeber glaubten zu wissen, wußten aber nichts über ihren glauben, diese narren.

 der besucher fühlte sich unwohl und doch wohl unter ihnen, war er doch so viel besser informiert über sie als sie über sich und so viel besser über sich als sie über ihn. also versuchte er zu helfen, behutsam aufzuklären, ein wenig licht ins dunkel zu bringen, doch diese verblendeten ließen es nicht zu, waren unbelehrbar. auch mußte der besucher bald zurück, dorthin, wo er hingehörte, an den ort seines wissens.

 er kehrte heim mit einem gefühl der scham, wußte jedoch nicht vor wem und wessen er sich schämte. nach einigen tagen war dann die scham verschwunden.

 heute besitzen wir nicht einmal mehr mauern, unser wissen ist grenzenlos, schamlos, und unseren augen trauen wir alles zu.

 

 

 

 

Tektonik mit Dreizehn

 

Dicke gelbe Lava

Quillt aus furunkulösen

Kraterbergen jugendlicher Haut.

Pustelige Gipfel des

Körpereigenen Vulkanbezirks

Ragen auf in der unruhigen Region von

Unterarmen und Handoberflächen.

Warum will das Innere

Dort nur hinaus?

 

Abends heilt der Vater

Sorgender Erdgott

Mit Binden und Salben

Die Grabenbrüche des

Pubertierenden Sohnes.

Etwas in ihm

Hat bisher geschlafen

Unter allem Sichtbaren

Denkbaren

Im staunenden Ekel vor dieser eiternden Tiefe

Fühlen Vater und Sohn sich

Vorläufig vereint.

 

 

 

 

Verden I

 

Heimat ist

Wo an einem grauen Sonntagmorgen

In einer Windmühlenstraße um 7 Uhr 15

Schon eine Bäckerei mit Klo auf hat

Wo ich meine übel drängende Morgenwurst

Lassen kann

Scheiß Heimat: Im Bahnhof

Waren beide Klos KAPUTT

 

 

 

Verden II (Weigerung)

 

Hier

In dieser Buchhandlung

Habe ich GELERNT

1971 bis 1973 das

Ist nun ein Laden für Tüdellüt

Das kann nicht sein

Das Fischgeschäft Bremer

Geschlossen

Butter-Eiche verschwunden

Café Engelhardt frei zum Abriß

Meine Schule steht noch

Behaupte ich

Lieber bin ich nicht hingegangen

Nein - das kommt nicht in Frage

An all das Neue

Werde ich mich

Nicht erinnern

 

 

 

Verden III

 

Glaubst Du

Irgendwer wird sich an Dich

Erinnern glaubst Du

Irgendwas wird Dir noch

Gefallen

Glaubst Du

Irgendwer wohnt hier noch und

Sei es woanders

Am Stintfang

In der Lindhooper

Straße am Meldauer Berg

In Eitze Hönisch

Vergiß es ach vergiß die

Verpisste Stadt Deiner Jugend

Mit all den alten Nazis

Alten Bäumen am

Wall jetzt abgeholzt

CDU Bürgermeister SPD

Bürgermeister je nach

Wetterlage eingeregnet

Oder Sonnenschein

Bloß die Aller strömt und strudelt

Wie zu Eberhard von

Holles Zeiten und hier

Am Ufer neben der Brücke

Haben wir 1970

Unsere Joints geraucht

Die haben mich

Zu dem gemacht

Was bleibt

 

 

 

 

Kabeljo

 

 Jo Kabel hatte in seinem Leben bisher eine Million, achthundertneunundsechszigtausend und vierhundertundsiebenunddreißig Worte gesprochen. Dann verstummte er für immer. Er war neununddreißig Jahre alt und sprach nie wieder ein Wort.

 Nicht daß er sich dies in irgendeiner Weise vorgenommen hätte. Es geschah, und es geschah auf eine überraschende Weise als Jo wie gereimt auf dem Klo saß. Er hatte sich erleichtert, hatte - wie seine Mutter es immer nannte - Groß gemacht, griff zur Klorolle. In diesem Moment hätte er noch sprechen können. Zu spät: Er entrollte drei Blatt Papier, riß ab, faltete sie übereinander, fuhr damit hinter sich, wischte ab, zog die Hand wieder hervor, betrachtete die abgewischte Frucht seines Darms und bekam Lust sie abzulecken.

 Er leckte sie ab, schluckte sie runter.

 Und von diesem Moment an gab es für Jo keinen Grund mehr zu sprechen. Es war einfach nicht mehr nötig. Er begriff, daß alles bisher Geredete nur überflüssig wie verschwendete Spucke gewesen war, an und für sich nichts mit ihm zu tun gehabt hatte. Dieses Lecken hatte ihn von der Wurzel her verwandelt.

 Er lebte fortan nur durch seine Zunge.

 

 Jo erleckte zunächst sich selbst. Es gelang ihm, eine stets wachsende Fläche seines Körpers neu zu entdecken. Als er die Grenze des mit der Zungenspitze irgendwie noch Berührbaren erreicht hatte, begann er seine Umgebung zu bezüngeln: Fußböden, Gehsteige, Straßenpflaster, Treppen, alles Begehbare wurde auch beleckt, bis in feinste Ritzen und Ecken. Es folgten Vertikalen: Wände, Bäume, Laternenmasten...

 Infolge des leckenden Lebenswandels vergrößerte sich Jos Zunge zusehends. Allmählich begann sie ihm aus dem Mund herauszuhängen, zunächst für ein bis zwei Zentimeter über die Unterlippe, dann bis zur Kinnspitze hinab, so daß er mit der Zungenspitze in der anderen Richtung bis zur Nasenwurzel, bald bis an die Augenbrauen gelangen konnte. Selbst wenn er es gewollt hätte, nun konnte er nicht mehr sprechen, nur noch lallen. Die Zunge nahm die tiefrote Farbe eines Hahnenkammes an, mit einem Geflecht blaugrün schillernder Adern an ihrer Unterseite. Es war nur eine Frage der Zeit, daß diese anatomische Besonderheit mit ihren phantastischen Möglichkeiten dem anderen Geschlecht auffallen mußte, an das Jo früher nur eine Unzahl an Worten vergeudet hatte.

 Als erstes verliebte sich eine Yvonne in Jo. Sie sah ihn auf der Straße sich im Ohr lecken, schon war es um Yvonne geschehen. Sie folgte ihm, ihre Blicke trafen sich, man ging in ein Cafe, er nahm sie mit nach Haus, das Übliche. Aber was dann kam, war ganz und gar nicht üblich. Was andere Männer mit der Zunge vermochten, konnte Jo zehnmal besser, größer, länger. Er konnte mit seiner Zunge tief in Yvonne eindringen. Ohne die übliche Zeitverzögerung ließ Jo sein Organ rein gedanklich gesteuert zu praller Größe wachsen. Und sein traditionelles Liebeswerkzeug war als nette harte Abwechslung zusätzlich da. Jo, ein Stecher mit zwei Zinken, die sich wundervoll ergänzten: Yvonne war restlos begeistert. So weinte sie bittere Tränen, als Jo ihr eines Tages wortlos, allein durch Absenken seiner Zunge zu verstehen gab, daß „Schluß“ sei. Denn es gab bereits eine Christine.

 Rasch sprachen sich seine Fähigkeiten in der Stadt herum. Auf Christine folgten Gaby, Scheila, Susanne, Rosy, Aysche, Frauen und immer mehr Frauen, die sich nach Jos Zunge verzehrten. Als besonders angenehm empfanden sie alle es, daß Jo keine überflüssigen Worte machte, mit gezäumter Zunge sofort zur Sache kam.

 Das war eine anstrengende Zeit für Jo. Man verpaßte ihm als Spitznamen das Anagramm Kabeljo, was zugleich an einen Kabeljau erinnerte. Immer ging von Jo’s Gesicht ein durchdringender Fischgeruch aus, den er selbst gar nicht wahrnahm.

 

 Allmählich wurde Jo zu einem Ärgernis, ja man begann ihn zu hassen. Pastoren warnten vor ihm von der Kanzel, besonders an Pfingsten, wenn andere in Zungen redeten, Jo aber stumm sein gottloses Unwesen trieb. Kein Mann konnte sicher sein, daß seine Frau oder Freundin, Schwester oder Mutter nicht gerade beim Kabeljo war. Nachdem die Geliebte eines hohen Staatsbeamten Jo zur Teatime gebeten hatte, dies jedoch jenem zu Ohren kam, wurde Kabeljo unter dem Vorwurf, sein Kopf besitze einen krankhaften Auswuchs, der von ganz tief innen komme, in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Dort diagnostizierte man eine gefährliche Psychose, die den Patienten zu fortwährenden perversen Züngeleien zwänge. Dieser Tatbestand wurde in Form zungenbrecherischerer Fremdwortkonstruktionen in Jo’s Krankenakte eingetragen. Man verklebte das Gesicht des Psychopaten von den Nasenlöchern abwärts mit einem riesigen Pflaster und ernährte ihn künstlich über eine Kanüle.

 Eines Morgens erwachte Jo aus tiefer Narkose. Er spürte eine Veränderung: Das Pflaster war fort und ein Nasenloch juckte. Wie früher wollte er den Juckreiz mit der Zungenspitze stillen, doch gab es keine Zunge mehr. Jo stieß die Bettdecke von sich, stürzte aus dem Bett, tobte im Zimmer umher, schlug alles kurz und klein. Nach zwei Tagen in einer Gummizelle verlegte man ihn in einen abgelegenen geschlossenen Trakt der Klinik, fixiert, weggeschlossen.

 Nach einem halben Jahr, als niemand sich mehr an seinen Fall erinnern konnte oder wollte, tauschte man Jo’s Krankenakte aus. Er erhielt einen neuen Namen, hieß nun Otto Stumpf und galt fortan als schwer traumatisch gestört infolge eines unfallbedingten Verlustes der Sprechfähigkeit.

 

  Nun lebt Jo als Otto Stumpf, lebt seine lieblosen Tage, verlebt sein Leben, stumm, alles ist geregelt.

 Nur zuweilen, vor allem wenn er des morgens vergißt seine Medikamente einzunehmen, überkommen ihn schlimme Phantomschmerzen, dort wo das Gehirn seine Zunge weiß. Dann geht er aufs nächstgelegene Klo, setzt sich auf die Brille, reißt ein paar Blatt Papier ab, zerknüllt und formt sie mit einem Rest Spucke, die er noch hat, in den Händen zu einem Ball. Er schiebt die Kugel in den Mund. Und jedesmal wenn es ihm gelingt den Papierknödel zu zerkauen und hinunterzuwürgen, fühlt er sich etwas stolz. Er versucht sich vorzustellen, er sei sein eigener Magen, der genußvoll den von oben herabströmenden Papierbrei aufnimmt, aber von allem, was vorher damit geschah, nichts weiß und wissen muß. Ganz Magen hockt Otto dann auf dem Deckel, windet sich, zieht sich zusammen, bläht sich auf, verdaut sein Glück, verdaut und verdaut solange bis irgendwer an der Klotür rüttelt und Einlaß begehrt.

 Das Wort „Zunge“ hat er aus seinem Denken verbannt. So ficht es ihn nicht an, wenn Ärzte oder Pfleger gelegentlich sich scherzhaft zurufen, böse Zungen hätten wieder einmal behauptet, Stumpf mache heimlich auf dem Lokus Sprechübungen, der Idiot... Sie wissen nichts vom Leben, wissen nichts über sich, aber reden zuviel.