Rainer Beuthel: Saint-Germain und das Okkulte

I. Zwei Welten

 

 Wer sich mit der historischen Figur des „Grafen“ von Saint-Germain befaßt, stößt früher oder später auf eine Fülle phantastischer Legenden, die sich zum einen auf Saint-Germains Biographie beziehen, zum anderen ihren Helden als ein weder an Raum noch Zeit gebundenes, quasi übermenschliches „Geisteswesen“ auffassen.

 Nicht genug, daß Saint-Germain angeblich - so Irene Tetzlaff - „am 28.Mai 1696 während einer Sonnenfinsternis (....) als der erstgeborene Sohn des Fürstenpaares Franz II. Rakoczy von Ungarn-Siebenbürgen und der Prinzessin Charlotte-Amalie von Hessen-Rheinfels-St. Goar“ zur Welt gekommen sein soll oder man ihn 1762 „während des russischen Thronwechsels (...) unter dem Namen Soltikow in Petersburg“ gesehen habe[1] - der „Graf“ wird zu einem „Licht in der Finsternis“ zur Erleuchtung und Erlösung der gesamten Menschheit hochstilisiert; „für ein vereintes Europa soll er auch heute noch geistig wirken“[2]. Anhänger der Inkarnations- und Karmalehre sehen in ihm einen „Gott der Freiheit“, der „in Atlantis (...) als Hohepriester in einem Tempel des Lichts“ gedient habe. „Saint Germain war auch der Prophet Samuel, der die Stimme Gottes hörte und antwortete: ‘Rede Herr, denn dein Diener hört.’ Als Joseph von Arimathea war er Lehrer und Ratgeber von Jesus. Zugleich war er auch Beschützer von Maria und Jesus.“[3] Peter Krassa spielt in seiner Saint-Germain-Biographie mit dem Bild des „Wiedergängers“ und spricht vom „angeblichen Tod“ Saint-Germains am 27.2.1784 in Eckernförde, worin offenbar die Möglichkeit eingeschlossen scheint, daß der „Graf“ immer noch unter den Lebenden weilt.[4]

 Wer all dies lediglich als blanken Unsinn ignoriert, macht es sich recht einfach. Zum einen weist Saint-Germains Biographie, wie sie im deutschsprachigen Raum erstmals von Gustav Berthold Volz dokumentiert wurde[5], weiterhin beträchtliche Lücken auf, die natürlich allen, die dahinter Geheimnisse wittern wollen, Spekulationen vielerlei Art ermöglichen, Vermutungen, die sich nicht so ohne weiteres rasch widerlegen lassen, deren Wahrheitsgehalt aber wie jede unbewiesene These auf den Prüfstand gehört; zum andern steht die okkult-esoterische Sichtweise auf Saint-Germain in Denktraditionen, die nicht erst in der Neuzeit entstanden, sondern deren Quellen in Spätantike und Mittelalter zu finden sind und die infolge globaler Gesellschafts- und Umweltkrisen für viele Menschen aktuell an Bedeutung gewinnen. Wer glaubte, nicht nur die allerchristlichsten starren Dogmen sondern auch Magie, Alchemie und diverse andere „Geheimwissenschaften“ seien infolge von Rationalismus und Aufklärung des 18. Jahrhunderts zumindest in Europa überwunden, sieht sich angesichts des zeitgenössisch wuchernden Esoterik-Booms eines anderen belehrt. Der Zusammenbruch des mittelalterlichen christlichen Weltbildes hat jene schon seit alters her mit dem Christentum konkurrierenden Denksysteme neu belebt: Hermetik, Gnosis, Alchemie, Kabbalistik. In Theosophie und Anthroposophie des 19. und 20. Jahrhunderts entstand hieraus dann unter Einbeziehung christlicher Elemente eine wüste Mischung mit Versatzstücken ostasiatischer und ägyptischer Mythologien. In diesem Zusammenhang wurde und wird die Figur Saint-Germains als eine Art Messias-Gestalt, als „aufgestiegener Meister“ aufgefaßt.

 Die wissenschaftlich bisher nicht belegten Behauptungen, Saint-Germain sei Freimaurer[6], Rosenkreutzer oder Kabbalist[7] gewesen, dienen den Anhängern diverser heute noch oder wieder agierender „Geheimgesellschaften“, um Saint-Germain als einen der ihren für sich zu vereinnahmen.

 

II. Inszenierungen

 

 Den Kern der Legenden um Saint-Germain („der alles weiß und niemals stirbt“[8]) hat niemand anderes als der „Graf“ selbst in die Welt gesetzt. Dieser aus Gerüchten gespeiste Mythos ist die Folge einer sehr geschickten und geschäftstüchtigen Selbstinszenierung. Phantastische Geschichten über sein schon Jahrhunderte währendes Alter, über geheime Fertigkeiten bis hin zur Fähigkeit, Gold zu machen, über Lebenselixier (ein alchemistischer Topos, der auf sehr simple Weise mit dem Gebräu eines angeblich lebensverlängernden „Zauberwassers“ verbunden wurde) und den Besitz des „Steines der Weisen“ waren nicht allein amüsant und bei Hofe unterhaltsam; sie wurden von saturierten Gönnern und Mäzenen häufig genug geglaubt, so daß Saint-Germain recht gut davon leben konnte[9] - allerdings mit gewissem Risiko: Erfolglose Goldmacher wurden verschiedentlich drakonisch bestraft.[10] Namens- und Ortswechsel waren von Zeit zu Zeit überlebensnotwendig. So schuf Saint-Germain sich selbst eine Aura des Numinosen, die von anderen zu späterer Zeit ausgeschmückt und für okkulte Zwecke instrumentalisiert werden konnte.

 Wie Saint-Germain seine Umwelt ganz bewußt über seine Herkunft und andere biographische Details im Unklaren ließ - vielleicht waren sie so banal, daß sie in den Adelskreisen, in denen der falsche Graf zu verkehren pflegte, verächtliches Nasenrümpfen bewirkt hätte - so hat er auch nichts zu Papier gebracht, was seine Weltanschauung, sein Gedankensystem nachvollziehbar machte. So läßt sich bis jetzt auch nicht belegen, in welchem Maße er von hermetisch-alchemistischer Philosophie erfüllt war, und ob er sie bloß zynisch benutzte. Wir müssen ihn hauptsächlich an seinen Taten messen, und die sprechen eher gegen ihn. Hätte Saint-Germain entsprechend seiner angeblich bedeutenden Kenntnisse und Fertigkeiten beispielsweise im Gebäude der ehemaligen Otteschen Manufaktur in Eckernförde irgend etwas Handfestes, Verwertbares produziert, müßte davon eigentlich etwas überliefert worden sein. Es gibt jedoch nichts, außer einem pflanzlichen Abführtee („Saint-Germain-Tee“) sowie der Erinnerung an verschiedene minderwertige „Erfindungen“ wie das „Carls-Metall“. Und ebenso dürftig liest sich das Inventar des Nachlasses Saint-Germains, da finden sich Gegenstände wie „ein roth gestreifter flanellen Schlafrock nebst einer dito Schürze, (...) ein Bündel mit Kleinigkeiten, (...) zwei alte lederne Tobacksdosen (...)“ usw.[11] Ein Geheimnis?

 

III. Legendenbildung

 

 Erschien Saint-Germain aufgeklärten Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts eher als Scharlatan und Abenteurer[12], wandelte sich sein Bild im 19. und 20. Jahrhundert zu einem okkulten Mythos, der sich in mannigfaltigen Variationen in Belletristik, Feuilletons und pseudowissenschaftlichen Schriften niederschlug.

 Der grundlegende Bruch in der Auffassung der Figur Saint-Germains wird durch den Vergleich zwischen Christoph Martin Wielands „Der Stein der Weisen“ (1786) und Alexander Puschkins „Pique Dame“ (1834) deutlich. Ohne daß Wieland unseren Wundermann beim Namen nennt, paßt doch seine eher ironisch distanzierte Beschreibung des am Hofe König Marks von Cornwall sich aufhaltenden Misfragmutosiris, Typus eines ägyptischen Adepten „aus der echten und geheimen Schule des großen Hermes“[13] ziemlich genau auf Saint-Germain: „Alles an ihm, Gestalt, Kleidung, Sprache, Manieren und Lebensart, kündigte einen außerordentlichen Mann an. Er aß immer allein und nichts was andere Menschen essen; (...) Er sprach die wunderbarsten und räthselhaftesten Dinge mit einer Offenheit und Gleichgültigkeit, als ob es die gemeinsten und bekanntesten Dinge von der Welt wären: aber auf Fragen antwortete er entweder gar nicht; oder wenn er es that, so geschah es in einem Tone, als ob nun weiter nichts zu fragen übrig wäre, wiewohl der Fragende jetzt noch weniger wußte als zuvor. Von Personen, die vor vielen hundert Jahren gelebt hatten, sprach er als ob er sie sehr genau gekannt habe; und überhaupt mußte man aus seinen Reden schließen, daß er wenigstens ein Zeitgenosse des Königs Amasis gewesen sey, wiewohl er sich nie deutlich darüber erklärte. Was ihm bey Mark den meisten Kredit gab, war, daß er viel Gold und eine Menge seltner Sachen bey sich hatte, und von sehr großen Summen als von einer Kleinigkeit sprach.“[14] Nachdem der Adept sich dann mit dem Kronschatz Marks davongemacht hat, steht der König buchstäblich in einen Esel verwandelt da.

 In Puschkins hochromantischer und phantastischer Erzählung dagegen begegnet uns Saint-Germain, der „alte Sonderling“[15], als Retter in der Not. Er vertraut einer in Spielschulden geratenen Gräfin ein Kartengeheimnis an, mit dessen Hilfe sie die dringend benötigte Summe zurückgewinnen kann. Herrmann, ein Spielkumpan ihres Enkels, hört viele Jahre später von dieser Geschichte und versucht, der alten Gräfin das Geheimnis bei Nacht zu entlocken. Sie aber stirbt vor Schreck. Drei Tage danach erscheint sie ihrem Mörder als Geist: „Ich komme zu dir wider eigenen Willen, - sagte sie mit fester Stimme, - aber man hat mir befohlen, deine Bitte zu erfüllen. Drei, Sieben und As gewinnen für dich nacheinander,- doch unter der Bedingung, daß du an einem Tag mehr als eine Karte nicht setzt und daß du danach dein Lebtag nicht wieder spielst.“[16] Als aber Herrmann den Trick anwenden will, erscheint ihm an entscheidender Stelle statt des benötigten As’ die Pique Dame - er wird wahnsinnig.  Saint-Germain erscheint bei Puschkin also eher beiläufig, seine Figur wird benutzt, um ein Geheimnis in die Handlung einzuführen.

 Fortan wird Saint-Germain als literarischer Wiedergänger durch die Belletristik geistern[17]. In dem eher zweitrangigen Roman „Graf von Saint=Germain“ eines Philipp Otto von Münchhausen[18] etwa tritt Saint-Germain, der zuvor recht sinnfällig „Graf Dunkelmann“ gehießen hat, gegen Ende mit den Worten auf: „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit, - nur für wenig Augenblicke; ich muß. Alle paar hundert Jahre, selten früher, zwingt mich eine finstere Nothwendigkeit, den Nächsten meine Geschichte - mein unerhörtes Schicksal zu beichten.- Der fürchterliche Augenblick naht jetzt....“[19] Und es folgt eine ausführliche Schilderung des vielhundertjährigen Lebens des Erzählers, die jedoch nur eine Episode unter vielen in diesem Roman bildet.

 In Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“[20] demonstriert der Autor anhand des Berichts des Grafen Brahe über Saint-Germain die Möglichkeit unterschiedlicher Realitäts- und Wahrnehmungsebenen. Für die eigentliche Handlung des Romans spielt er keine herausragende Rolle, ebenso wenig wie in Lernet-Holenias „Der Graf von Saint-Germain“[21], worin dieser als Figur benutzt wird, um eine bis in die bedrohliche Gegenwart der Romanhandlung (die Zeit des Anschlußes Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland) bedeutsame Prophezeiung auszustoßen.

 In dem expressionistischen Roman „Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt“[22], von Emil Szittya, wird zu einer Zeit des Umbruchs (nach dem 1. Weltkrieg) auf Betreiben eines jüdischen Irrenhausdirektors in Paris ein „neuer Staat“ gegründet: „Der neue Staat hat die erlösende Allseele gefunden. Christlich-soziale, Sozialisten, Sozialdemokraten, Integralsozialisten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchosozialisten, Anarchisten, Individualanarchisten, alle theosophischen und anthroposophischen Strömungen, allerlei Spiritisten, allerlei Vegetarier, Kokusnußesser, religiöse Sekten, Abnormitäten, schöne Männer und Frauen, Huren und Zuhälter, besonders reiche Menschen, alles, was etwas sucht, alles, was sich amüsieren will, findet im neuen Staat Zufluchtsort und Beschäftigung.“[23] Die herrschenden Figuren des „neuen Staates“ belauern und bekämpfen sich. Der Staatsgründer Funk wird von seiner Geliebten erwürgt. Das „Projekt“ endet in einer Katastrophe, einer Art (christlich motivierter) Gegenrevolution, die alles wieder umwirft und umwälzt. Es entstehen neue schwärmerische Bewegungen, Massenhysterie. Ein Kind geht auf einer Telegraphenleitung entlang, etc. Saint-Germain taucht an mehreren Stellen des Romans auf. Er erscheint als eine Art Drahtzieher finsterer Machenschaften und wird in Bezug zum „ewigen Juden“ (Ahasver) gesetzt. Die Bezüge sind wirr und vieldeutig, wie so viele Motive des Buches, das mit einer komischen Pointe endet: „Sie begann, ein Paar Strümpfe für den dreihunderteinten Geburtstag Saint-Germains zu stricken.“[24]

 

IV. Theosophie und Anthroposophie

 

 In der Werkausgabe Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophie sowie der Waldorfschulen, finden sich mehrere Textstellen zu Saint-Germain, die aus der Zeit stammen, zu der Steiner noch die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft leitete. So heißt es in einem dokumentierten Vortrag vom 4.11.1904 („Das Mysterium der Rosenkreuzer“): „Vor der französischen Revolution erschien bei einer Hofdame der Königin Marie-Antoinette, der Madame d’Adhémar, eine Persöhnlichkeit, die alle wichtigen Szenen der Revolution voraussagte, um davor zu warnen. Es war der Graf von Saint-Germain, dieselbe Persöhnlichkeit, die in früherer Inkarnation den Orden der Rosenkreuzer gestiftet hat. Er vertrat damals den Standpunkt: die Menschen müßten in ruhiger Weise von der weltlichen Kultur zu der wahren Kultur des Christentums geführt werden. Die weltlichen Mächte wollten sich aber die Freiheit im Sturm, in materieller Weise erobern. Zwar sah er die Revolution als notwendige Konsequenz an, aber er warnte doch davor. Er, Christian Rosenkreutz, in der Inkarnation vom 18. Jahrhundert, als Hüter des innersten Geheimnisses vom Ehernen Meer und vom heiligen goldenen Dreieck, trat warnend auf: die Menschheit sollte sich langsam entwickeln. Doch schaute er, was vor sich gehen würde.“[25]

 Wem auffällt, daß Saint-Germain 1784 gestorben ist, also nicht Jahre später einer Hofdame Marie-Antoinettes hätte begegnen können, liegt richtig. Aber es kommt noch schöner. An anderer Stelle[26] führt Steiner aus, Saint-Germain habe „in Wien im Jahre 1790 geäußert“: „Ich werde gegen Ende des Jahrhunderts aus Europa verschwinden und mich in die Regionen des Himalaja begeben. Ich werde mich ausruhen, ich muß ruhen. Man wird mich in 85 Jahren Tag für Tag sehen.“ Und was geschah nach 85 Jahren?: „Im Jahre 1875, also genau 85 Jahre nach diesem Ausspruch, wurde die Theosophical Society begründet,“[27] was Steiner als eine Art Wiederkunft Saint-Germains deutet: „Diese Dinge hängen alle in einer bestimmten Weise zusammen.“[28] 

 Diese okkultistischen Phantastereien Steiners beruhen auf dem Zeugnis bewußter Hofdame d’Adhémar, die jedoch real niemals existierte, sondern als bloß fiktive Figur in einem Buch des Romanschriftstellers Etienne Léon de Lamothe-Langon aus dem Jahr 1836 vorkommt.[29] Steiner - fußend auf einem Aufsatz der Theosophin Isabella Cooper-Oakley[30] - kolportiert den Bericht der „Hofdame“ und präsentiert ihn seinen geneigten Zuhörern und Lesern als historische Wahrheit. In seiner Warnung an den König vor der Revolution habe Saint-Germain „das große Wort gesprochen, das auf Wahrheit beruht: ‘Wer Wind sät, der wird Sturm ernten’, und er setzte hinzu, daß er dieses Wort schon vor Jahrtausenden gesagt und es dann Christus wiederholt hat.“[31]

 Weitere Erkenntnisse der „freien Geisteswissenschaft“ Steiners:

 Saint-Germain sei einer der „vier Meister, die in unserer Bewegung mitwirken“. Ständen „Meister Morya“ für „Kraft“, „Meister Kuthumi“ für „Weisheit“, „Meister Jesus“ für „das Intimere im Menschen“, so wende man sich an „Meister Saint-Germain“ (...) „in Schwierigkeiten des täglichen Lebens.“[32]

 In Ausschmückung einer Bemerkung der Begründerin der modernen Theosophie, Helena Petrowna Blavatsky, die in ihrer „Geheimlehre“ von einem „Kabbalah-Manuskript“ spricht, „dessen einziges Exemplar (in Europa) im Besitze des Grafen St. Germain gewesen sein soll“[33], führt Steiner aus, in der Vatikanischen Bibliothek befinde sich ein geheimes Manuskript, worin „aufgeschrieben“ sei, was das Pfingstfest „im tieferen Sinne bedeutet.“ Das Manuskript werde dort „in der sorgfältigsten Weise behütet“ und es habe „kaum jemand gesehen, der nicht in die tiefsten Geheimnisse der katholischen Kirche eingeweiht war oder es im Astrallichte zu lesen vermochte.“ Kurz: „eine Kopie besitzt der Graf von Saint-Germain, von dem wohl die einzigen Mitteilungen stammen, die es in der Welt davon gibt.“[34]

 Steiners Spekulationen haben ihren Niederschlag auch in der Belletristik gefunden, so etwa in dem über weite Strecken in „faustischem“ Ton gehaltenen Bühnenstück „Der Weltenwanderer“ des schweizerischen anthroposophischen Autors Paul Bühler[35] oder in dem Roman „Der Elf mit dem blauen Helm“ eines Joachim Winckelmann[36], worin Saint-Germain am Vorabend der französischen Revolution auf der Flucht vor finsteren Häschern als „Graf Vermont“ auftritt. Er ist nicht nur im Besitz allerlei magischen Wissens und geheimer Tinkturen, z.B. eines „Wachmachers“, sondern zeigt sich auch im Spiritismus bewandert. Nebenbei stellt er dann ein bißchen richtiges Gold her.

 

V. Initiationen für bare Münze

 

 Im Vorwort der Neuausgabe einer der „kanonischen Schriften“ des Saint-Germain-Kultes, eines Sammelsuriums abstruser Behauptungen und biographischer Streiflichter von Zeitgenossen Saint-Germains, häufig ohne jeglichen Bezug zu ihm selbst, schildert uns der Herausgeber Hanns-Joachim Starczewski sein Saint-Germain-Erweckungserlebnis: „Im März 1981 wurde ich in Tampa in Florida USA am Ende eines metaphysischen Trainings von Saint-Germain auf meiner rechten Schulter berührt und gesegnet und noch heute, nach vielen Jahren, spüre ich seine Hand auf meiner Schulter. Er gab mir den Auftrag, im Mittelpunkt Europas, in Höhr-Grenzhausen bei Koblenz, sein Geist- und Heilzentrum auf einem alten Keltischen Tempelbezirk aufzubauen, der vor 8750 Jahren von der Valuspa, einer Druidin, der Begründerin der Keltischen Rasse ins Leben gerufen worden war.“[37]

 War schon Saint-Germain zu seiner Zeit recht geschäftstüchtig gewesen, so sind es seine Jünger erst recht, denn Starczewski setzt den Auftrag des Meisters rasch ins Werk: „Nach meiner Berührung durch Saint Germain in den USA wurde ich von IHM und vom Sonnengott RA im Juni 1981 14 Tage in dem neuen Geist- und Heilzentrum in Höhr-Grenzhausen im Beisein von ca. 10 Personen unterrichtet und als Medium diente mir eine spanische hochspirituelle Gräfin.“ Der Erleuchtete lernt „erste Schritte als Geistheiler zu gehen und gleich zu Beginn stellen sich die ‘Wunder’ ein, die nichts anderes sind, als die Anwendung kosmischer Energie.“ Allein, es fehlt noch etwas, ein weiterer Meister muß seinen Segen geben: im September wird Starczewski „von Jesus Christus angesprochen“, der ihm sagt: „Sei ihnen die Sonne in der Welt, für die, die mich nicht kennen.“ Gott sei Dank, selbst Jesus hat nichts dagegen, daß Neuheiden sich dem ägyptischen RA zuwenden: „Damit war der Kreis geschlossen und Tausende von Hilfesuchenden kommen in die Heilstätte, um an Seele, Geist und Körper in Seminaren und in Gesprächen geheilt zu werden.“[38]

 Rummel und Kult um Saint-Germain - dazu gehören auch die jüngste „Entdeckung“ sowie Aufführung seiner Musik in Eckernförde[39] - haben nicht nur eine esoterische sondern auch eine kommerzielle Seite. Ein Widerspruch liegt darin nur insofern, als das angeblich so geheime Wissen gleichzeitig für jedermann zugänglich sein soll - ein Grundproblem aller Geheimlehren. Verbreiten sie sich, verlieren sie ihr Geheimnis. Jedoch: ficht dies den Gläubigen an? Wer also für den Preis von 480.- Euro an einer vom „Troubadour Märchenzentrum in Vlotho“ veranstalteten „spirituellen Erlebnis-Reise auf den Spuren von Saint-Germain, einst und heute“[40] nach Louisenlund und Eckernförde teilgenommen hat, wer am Donnerstag sein „inneres Licht“ betrachtet und erkundet sowie „eine kleine ICH BIN-LEHRE“ erfahren, am Freitag Vorträge über „Wahre Alchymie“, die „Kraft der gelebten Symbole“ und „Die 12 Sinne nach Rudolf Steiner und die Arbeit des Dodeka-Vereins“ gehört, am Samstag geschaut, „welche Impulse“ Saint-Germain damals gefördert hat und heute fördert, dann eine Führung „zu den Stätten in Eckernförde, wo sich der Graf de Saint Germain aufgehalten hat“, erlebt, ein „festliches Abendessen im Strand-Hotel-Restaurant“ genossen, am Sonntag dann unter anderem unter dem Motto „Wahre Schönheit kommt von innen“ eine praktische Anwendung der „Licht-Kosmetik“ betrachtet und zu guter Letzt noch eine Schiffstour auf Schlei und Eckernförder Bucht unternommen hat, wird der an irgend etwas zweifeln wollen oder können?

 Er wird sich vermutlich eher auf die zweite Erlebnis-Reise „auf den Spuren von Saint-Germain“ freuen, denn die geht nach Paris, die „Haupt-Wirkenstätte“. Und die dritte wird nach Ungarn-Rumänien („Geburtsort“) gehen. Wer weiß, vielleicht wird sich dort ein Geheimnis lösen?

 

 

Anmerkungen

 

[1] Tetzlaff, Irene: Vor 200 Jahren starb Graf von Saint-Germain in Eckernförde.- In: Jahrbuch der Heimatgemeinschaft Eckernförde, 42.(1984) S. 159 f. (Für beide Behauptungen - sie stehen beispielhaft für viele andere der Autorin - gibt es keinerlei Beweis, bzw. genaue Quellenangabe.)

[2] Tetzlaff, Irene: Der Graf von Saint Germain. Licht in der Finsternis.- Stuttgart: Mellinger, 1980.- S. 7.

[3] Historische Informationen über Saint Germain.- www.hermes-trismegistos.com/saint.htm.

[4] Krassa, Peter: Der Wiedergänger. Das zeitlose Leben des Grafen von Saint-Germain.- München: Herbig, 1998.- S. 260,

[5] Volz, Gustav Berthold: Der Graf von Saint-Germain. Das Leben eines Alchimisten. Nach großenteils unveröffentlichten Urkunden.- Dresden: Aretz, 1923. (Bisher einzige umfassende kritische Biographie Saint-Germains).

[6] So behauptet etwa Tetzlaff, Saint-Germain habe 1782 am „Kongreß der Freimaurer in Wilhelmsbad“ teilgenommen, und zwar unter dem Ordensnamen „Eques a Capite Galeato“ (Tetzlaff, Irene: Unter den Flügeln des Phönix.- Marschalkenzimmern: Lichthort, o.J.- S. 139).

[7] vgl. Volz, a.a.O., S. 34ff.

[8] eine eher ironisch zu verstehende Formulierung Voltaires, zitiert nach Krassa, a.a.O. S. 31.

[9] bei Volz (a.a.O.S. 225-284) findet sich in Form des Briefwechsels zwischen Graf Cobenzl, Statthalter in den österreichischen Niederlanden, und Maria Theresias Staatsminister Graf Kaunitz eine ausführliche Schilderung des von Saint-Germain in großem Stil geplanten Betruges um die Errichtung einer Manufaktur in Tournai, in dessen Folge Saint-Germain mit dem vorgeschossenen Kapital über die Grenze nach Holland verschwand.

[10] siehe: Oppeln-Bronikowski, Friedrich von: Abenteurer am Preußischen Hofe. 1700-1800.- Berlin; Leipzig: Paetel, 1927. S. 92. (Das Buch enthält auch ein Kapitel über Saint-Germain).

[11] Jessen, Willers: Der Nachlaß des Alchimisten Grafen Saint=Germain, gestorben zu Eckernförde am 27.Februar 1784.- In: ZSHG 56(1927) 449-457.

[12] Beispielsweise schrieb der Verfasser eines Nachrufes auf Saint-Germain in der Berlinischen Monatsschrift (Bd. 5, 1785, S. 8 - 15), dem Sprachrohr der Berliner Aufklärung: „Ich habe sehr wohl gewußt, daß viele Hohe und Niedere sich von diesem Menschen bethören ließen, der weder öffentliche noch geheime wahre Künste und Wissenschaften besaß, obgleich er das Geheimnis verstand, viele glaubend zu machen, daß er ein Wunderthäter sei; ein Geheimnis, daß itzt so öffentlich, und man kann hinzusetzen, so plump getrieben wird, um alle Mittel zu seinem Zweck anzuwenden.“ etc. 

[13] Wieland, Christoph Martin: Dschinnistan oder auserlesene Feen=und Geistermärchen, theils neu erfunden, theils neu übersetzt.- Berlin: Weidmannsche, 1938.- S. 115. (Zuerst erschienen 1786).

[14] ebda. - Vergleichbare Schilderungen Saint-Germain betreffend finden sich bei Volz a.a.O. an vielen Stellen, z.B. S. 288 ff.

[15] Puschkin, Alexander: Die Erzählungen.- Berlin: Friedenauer Presse, 1999.- S. 187.

[16] ebda. S. 213 f.

[17] Die folgende Aufzählung erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

[18] Münchhausen, Philipp Otto von: Graf Saint-Germain.- Göttingen: Dieterich, 1842.

[19] ebda. S. 291.

[20] Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.- München: Saur, 2002. (Erschienen zuerst 1910).

[21] Lernet-Holenia, Alexander: Der Graf von Saint-Germain.- Wien/Hamburg: Zsolnay, 1977 (zuerst 1948).

[22] Szittya, Emil:Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt.- Potsdam: Kiepenheuer, 1924.-

[23] ebda. S. 164.

[24] ebda. S. 231.

[25] Steiner, Rudolf: Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen. Aus den Inhalten der Esoterischen Schule. Zwanzig Vorträge gehalten in Berlin zwischen dem 23.Mai 1904 und dem 2.Januar 1906.- (GA 93).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1991.- S. 64.

[26] Steiner, Rudolf: Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. Dreiundzwanzig Vorträge, gehalten in den Jahren 1911 und 1912 in verschiedenen Städten.- (GA 130).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1977.- S. 346.

[27] ebda.

[28] Steiner, Rudolf: Die Tempellegende und die Goldene Legende... a.a.O. S. 108

[29] Lamothe-Langon, Etienne de: Souvenirs sur Marie-Antoinette et sur la cour de Versailles par Madame la comtesse d’Adhémar, dame du palais.- Paris, 1836.- vgl. Volz, a.a.O. S. 42f.

[30] in: Zeitschrift „Gnosis“, 15.12.1903.

[31] Steiner, Rudolf: Wesen und Aufgabe der Freimaurerei vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft. Dritter Vortrag, Berlin, 16.Dezember 1904. In: Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen. Aus den Inhalten der Esoterischen Schule. Zwanzig Vorträge gehalten in Berlin zwischen dem 23.Mai 1904 und dem 2.Januar 1906.- (GA 93).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1991.

[32] Steiner, Rudolf: Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Gedächtnisaufzeichnungen von Teilnehmern sowie Notizen von Vorträgen aus dem Jahre 1904 und Meditationstexte nach Niederschriften Rudolf Steiners.-

Band I: 1904 - 1909. (GA 266a).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1995.- S. 157.

[33] Blavatsky, Helena Petrowna: Die Geheimlehre.- Hannover: Verlag Esoterische Philosophie, 1999.- Bd. II. S. 249. (Erste deutsche Ausgabe 1899).

[34] Steiner, Rudolf: Die Tempellegende und die Goldene Legende... a.a.O. S. 22.

[35] Bühler, Paul: Der Weltenwanderer. Ein Drama um Graf  Saint Germain in einem Vorspiel und sechs Szenen.- 2. erw. Aufl.- Dornach: Literarischer Verlag, 1958.

[36] Winckelmann, Joachim: Der Elf mit dem blauen Helm. Aus dem Leben des Grafen von Saint Germain.- 3. Aufl.-  Argenbühl: Heinrich Schwab Verlag, 2001.

[37]. Langeveld, L.A.: Der Graf von Saint-Germain.- Höhr-Grenzhausen: Saint Germain-Starczewski Verlag, 1993 (erschienen zuerst 1930).- S. 7.

[38] ebda. S. 9.

[39] Die Existenz diverser Kompositionen Saint-Germains ist schon lange bekannt. Ob es sich hierbei um zu Unrecht vergessene, großartige Werke handelt, darf bezweifelt werden. Sie erfüllen ihren Zweck aber insofern, als sie zur aktuellen Identitätsbildung einer „Saint-Germain-Gemeinde“ beitragen.

[40] www.maerchen-zentrum.de/SaintGermain/

 

 

Verwendete Literatur

 

Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft.- Hrsg. v. Claus Priesner und Karin Figala.- München: Beck, 1998.

Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit.- Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985.

Bühler, Paul: Der Weltenwanderer. Ein Drama um Graf  Saint Germain in einem Vorspiel und sechs Szenen.- 2. erw. Aufl.- Dornach: Literarischer Verlag, 1958.

Hornung, Erik: Das esoterische Ägypten.- München: Beck, 1999.

Jessen, Willers: Der Alchimist Graf Saint-Germain.- In: Heimatbuch des Kreies Eckernförde/hrsg. von Willers Jessen und Christian Kock.- 2. Aufl.- Eckernförde: Schwensen, 1928.- S. 366 - 372.

Jessen, Willers: Der Nachlaß des Alchimisten Grafen Saint-Germain, gestorben zu Eckernförde am 27.Februar 1784.- In: ZSHG 56(1927) 449 - 457.

Krassa, Peter: Der Wiedergänger. Das zeitlose Leben des Grafen von Saint-Germain.- München: Herbig, 1998.-

Langeveld, L.A.: Der Graf von Saint-Germain. Der abenteuerliche Fürstenerzieher des 18. Jahrhunderts.- Berlin: Mittler & Sohn, 1930.- (Nachdruck: Höhr-Grenzhausen: Saint Germain-Starczewski Verlag, 2.Aufl. 1993/ mit einem Vorwort von Hanns-Joachim Starczewski).

Leisegang, Hans: Die Grundlagen der Anthroposophie. Eine Kritik der Schriften Rudolf Steiners.- Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1922.

Lernet-Holenia, Alexander: Der Graf von Saint-Germain.- Wien u.Hamburg: Zsolnay, 1977.

Methusalem. Graf von Saint-Germain. Leben und Taten des Wundermannes Saint-Germain.- In: Die Rutschbahn. Das Buch vom Abenteurer/hrsg. von Ignaz Jezower.- Berlin, u.a.: Bong & Co., (1922).- S. 161 - 197.

Münchhausen, Ph(ilipp) O(tto): Graf Saint-Germain.- Göttingen: Dieterich, 1842.

Oppeln-Bronikowski, Friedrich von: Abenteurer am Preußischen Hofe.- Berlin u. Leipzig: Gebr. Paetel, 1927.

Mötteli, Emil: Register zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Personenregister.- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1998.

Puschkin, Alexander: Die Erzählungen.- Berlin: Friedenauer Presse, 1999.

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.- München: Saur, 2002.

Ruppert, Hans-Jürgen: Theosophie - unterwegs zum okkulten Übermenschen.- Konstanz: Bahn, 1993.

Sawicki, Diethard: Magie.- Frankfurt a.M.: Fischer, 2003.

Steiner, Rudolf: Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Gedächtnisaufzeichnungen von Teilnehmern sowie Notizen von Vorträgen aus dem Jahre 1904 und Meditationstexte nach Niederschriften Rudolf Steiners.-

Band I: 1904 - 1909. (GA 266a).- Dornach: Rudolf  Steiner Verlag, 1995.

Band III: 1913 und 1914, 1920 - 1923. (GA 266c).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1998.

Steiner, Rudolf: Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. Dreiundzwanzig Vorträge, gehalten in den Jahren 1911 und 1912 in verschiedenen Städten.- (GA 130).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1977.

Steiner, Rudolf: Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen. Aus den Inhalten der Esoterischen Schule. Zwanzig Vorträge gehalten in Berlin zwischen dem 23.Mai 1904 und dem 2.Januar 1906.- (GA 93).- Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1991.

Szittya, Emil: Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt.- Potsdam: Kiepenheuer, 1924.

Tetzlaff, Irene: Der Graf von Saint Germain. Licht in der Finsternis.- Stuttgart: Mellinger, 1980.

Tetzlaff, Irene: Unter den Flügeln des Phönix.- Marschalkenzimmern: Lichthort, o.J.

Tetzlaff, Irene: Vor 200 Jahren starb Graf von Saint Germain in Eckernförde.- In: Jahrbuch der Heimatgemeinschaft Eckernförde 42(1984) 158 - 160.

Ullrich, Heiner: Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung.- Weinheim: Juventa, 1986.

Verfürden, Hartmut: Der Graf von Saint-Germain - Skizzen eines Lebensweges.- In: Landgraf Carl von Hessen 1744 - 1836. Vorträge zu einer Ausstellung/ hrsg. v. Reimer Witt und Heyo Wulf.- Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein, 1997.- S. 139 - 158.

Volz, Gustav Berthold: Der Graf von Saint-Germain.- Dresden: Aretz, 1923.

Wieland, Christoph Martin: Dschinnistan oder auserlesene Feen=und Geistermärchen, theils neu erfunden, theils neu übersetzt.- Berlin: Weidmannsche, 1938.

Winckelmann, Joachim: Der Elf mit dem blauen Helm. Aus dem Leben des Grafen von Saint Germain.- 3. Aufl.-  Argenbühl: Heinrich Schwab Verlag, 2001.

 

 

 

Quelle: Wer war "Graf Saint-Germain"? Eine historisch-kritische Bestandsaufnahme.- Eckernförde: Heimatgemeinschaft Eckernförde, 2004.

(Materialien und Forschungen aus der Region, Heft 5)

 

 

 

 

 

 

                                                                                                         Der Graf von Saint-Germain.

                                                                                                         Ein berühmter Alchemist.

                                                                                                         Prometheus gleich raubt’ er vom Himmelszelt

                                                                                                         Die Lebensflamme, die das All erhält.

                                                                                                         Natur folgt seinem Wort, von ihm gemeistert;

                                                                                                         Ist er nicht Gott, hat ihn ein Gott begeistert.

 

 

Die Rückkehr

 

 Der Kult, den man seit einiger Zeit um den sogenannten Grafen von Saint-Germain trieb, ging Torf zunehmend auf die Nerven. Schlug man die Zeitung auf: Saint-Germain! Suchte man im Internet nach Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier der Stadt: Saint-Germain! Überall lächelte einem das Konterfei des „berühmten Alchemisten“ entgegen. Allein schon die Bezeichnung „Graf“ war albern, ein Titel, den Saint-Germain - nach allem, was Torf wußte - sich selbst verliehen hatte. Wenn ein Hund zu miauen begann, blieb er doch ein Hund.

 Wieso wurde jener Saint-Germain, dessen Verdienst um diesen Ort einzig darin bestand, hier gestorben zu sein, dermaßen beachtet? Sollte man ernsthaft den „Saint-Germain-Tee“ oder das „Carls-Metall“ für wertvolle Erfindungen halten? Stand ihr Entdecker auf einer Stufe mit Edison, Diesel oder Madame Curie? Hatte er irgend etwas Bedeutsames zu Papier gebracht, etwa ein Buch verfaßt, woraus sich seine Gedankenwelt erschließen ließe? Hatte er einen Roman veröffentlicht oder eine politische Abhandlung? Nichts. Statt dessen umgab ihn angeblich ein „Geheimnis“. Bestand das Geheimnis vielleicht darin, daß niemand genau wußte, ob es überhaupt ein Geheimnis gab?

 Gewiß, er hatte ein paar gefällige Musiken komponiert, die anläßlich des Stadtjubiläums sogar auf einer CD erschienen waren. Doch als Torf das harmlose Gegeige einmal auf einer Party, deren Besucher fast ganz aus Bewohnern des hiesigen Waldorfs zu bestehen schienen, als Hintergrundgeräusch vernahm, fragte er eine anwesende Saint-Germain-Gläubige, ob es denn nicht vielleicht wichtigere, bessere Musik zu entdecken gäbe, als das da? Die Antwort des Gemeindemitglieds war ein böser Blick. Außerdem entströmte der Dreieinigkeit ihres physischen, Äther- und Astralleibes der aufdringliche Geruch einer Mischung aus gemahlenen Getreidekörnern, Leinöl und Schaf. Dazu kam noch das Flair irgendeiner exotischen Frucht, die von glücklichen Eingeborenen nach jahrtausendealter Tradition angebaut, zu kostbaren Essenzen verarbeitet, und dann auf geheimnisvolle Weise nach Europa gebracht wurde. Jedenfalls ein Grund, noch vor Zehn die Party der Gutmenschen zu verlassen und woanders hinzugehn.

  Irgendwie paßt das Ganze in unsere Stadt, fand Torf. Wir wohnen ja wunderschön an der herrlichen Bucht. Sei es auch Saint-Germain gegönnt, daß er in seinen letzten Jahren das eine oder andere Mal den Blick ganz weit bis zur offenen Ostsee hat schweifen lassen und nach seinem unsteten Leben vielleicht ein wenig Ruhe gefunden hat. Aber genau genommen lebt ein erheblicher Teil der Einwohnerschaft dieses Idylls in irgendeiner Weise von der Vorbereitung auf einen Krieg: Die einen probieren aus, wie man sich mit Torpedos und anderen Marinewaffen möglichst effektiv und kostengünstig umbringt. Die andern fahren auf allerlei Marineschiffen über und unter Wasser durch die Meere und üben den sogenannten Ernstfall. Wieder andere fabrizieren Pistolen und gewissermaßen als Alibi hübsch verzierte Jagdwaffen. Öde Beschäftigungen! Da muß irgendein Ausgleich her, etwas völlig Unalltägliches, eben „der Graf“ zum Beispiel, der sich angeblich für den „Frieden“ eingesetzt hat. Lächerlich. Saint-Germain lebte in und von jener Adelskaste, die nichts Besseres zu tun hatte, als ihre Untertanen in irrwitzige Kriege zu schicken. An ihm war nichts Subversives, er war einfach ein Schmarotzer unter seinesgleichen. Er hatte sich ihnen gleichgestellt durch Betrug.

 Aber war das so verwerflich? Ist ein Räuber, der andere Räuber beraubt, moralisch zu verurteilen? Man könnte die Frage verneinen, hätte Saint-Germain Reiche ausgenommen, um den Armen zu geben. Doch nach allem, was über ihn bekannt ist, hat er lediglich all den Comtes und Mesdames, die auf ihn hereinfielen, heimlich einen Spiegel vorgehalten und sich vermutlich köstlich amüsiert über ihre Herrlich- und Dämlichkeit. Das ist schon ganz lustig, aber kein Verdienst. Saint-Germain hat auf geschickte und amüsante Weise sein Geld verdient, ohne den Schritt Eulenspiegels zu tun, die Reichen öffentlich bloßzustellen, geschweige denn wie Schinderhannes irgendeiner armen Seele etwas abzugeben. Immer wenn seine Schwindeleien bei Hofe als Schwindel erkannt wurden, ist Saint-Germain verschwunden, um woanders unter neuem Namen wieder aufzutauchen.

 

 

 Torf wandert am Strand entlang, blickt hinaus in die Meeresferne. Weit oben über dem Horizont ist schon ein zaghafter Mond zu sehen.

 Torf grübelt: Was ist mit den Menschen los, daß sie sich mit einer Figur wie dem falschen Grafen identifizieren müssen?  Gut - traditionelle Religion funktioniert nicht mehr. Die christlichen Glaubensinhalte, mit denen man uns in der Kindheit malträtierte, taugen nicht mal mehr als literarisches Bild, als Metapher. „Auferstehung des Fleisches“, „jüngstes Gericht“, „Hölle“, „Himmel“ - man kann es einfach nicht mehr hören. Das rote Meer teilt sich, Marsch hindurch! Wein aus Wasser herstellen, und dann prost! Warum nicht an etwas noch Absonderlicheres glauben? Im Supermarkt der Religionen, Weltanschauungen, Mythen und Kulte kann sich jeder aussuchen, was er will. Nicht einmal in tief katholischen Gegenden verfügt die Kirche hierzulande noch über die reale Macht, Falschgläubige zu verfolgen und ihnen den rechten Glauben aufzuzwingen.

 Man darf also wählen. Man glaubt die Geschichte Saint-Germains, er sei mehrere hundert Jahre alt, habe sogar Christus gekannt. Warum nicht? Wenn der gekreuzigte Jesus auf einer Wolke gen Himmel fuhr, kann auch alles unmögliche andere möglich sein. Es ist egal, es ist Fantasy: Saint-Germain ist nicht 1784 in Eckernförde gestorben, er wurde beim Begräbnis seines letzten Gönners Landgraf Carl von Hessen in Schleswig gesehen, im Jahre 1836. Torf stellt es sich vor, also war es so. Das Grab war leer, Saint-Germain ist nicht gestorben, stirbt überhaupt nicht. Torf will auch nicht sterben. Denn es wäre einfach scheußlich. Saint-Germain wird mit dem nächsten Zug aus Kiel hier ankommen. Torf wird ihn am Bahnhof abholen. So wird es sein.

 Torf schwenkt nach rechts, stapft durch den Sand zur Promenade hoch. Die Uhr in den Dünen zeigt an 18 Uhr 03. Noch vier Minuten, leicht zu schaffen.

 Am Bahnhof wird durchgesagt, der Zug habe auf Grund einer Betriebsstörung zehn Minuten Verspätung. „Betriebsstörung“? Ein Geheimnis - was könnte es sein? Eine eingefrorene Weiche? Jetzt im Sommer? Ein Stromausfall? Oder hat es in Gettorf auf dem Bahnsteig bereits einen Menschenauflauf gegeben, weil „der Graf“ im Zug saß?

 Es hat sicher mit dem Grafen zu tun. Er hat sich vielleicht in Kiel nach dem Zug zum Ort seines Begräbnisses erkundigt. Auch in der Landeshauptstadt gibt es schon viele Wissende, viele Adepten. Man hat ihm bereitwillig Auskunft erteilt. Der Graf hat höflich gedankt, schnell ein paar Diamanten gereinigt, hat seine mitgeführte Kollektion wertvoller Stoffe in nie gekannten Farben auf dem Bahnsteig ausgebreitet. Die Polizei mußte den Bahnhof von Massen begeisterter Zuschauer räumen.

 18 Uhr 23. Der Zug läuft ein, Torf schmunzelt in sich hinein. Gleich wird Saint-Germain aussteigen. Torf wird ihn begrüßen, niemand außer Torf wird Saint-Germain erkennen. Was in Kiel geschah, interessiert hier nicht.

 Da ist er.

 Saint-Germain tritt ein wenig zögerlich auf den Bahnsteig. Eigentlich ganz normal gekleidet. Graue Bügelfaltenhose, dunkles Jackett, schwarze Reisetasche. Torf wundert sich: Ist der Graf bürgerlich geworden? Aber war er nicht auch früher schon ein Meister der Anpassung? Torf nimmt die Hand aus der Hosentasche seiner Jeans.

 „Darf ich mich Ihnen vorstellen?: Mein Name ist Torf.“

 „Angenehm. Es ist schön, daß Sie mich abholen“. Saint-Germain klingt etwas heiser.

 „Hatten Sie eine gute Fahrt?“

 „Ja, doch. Aber es ist überall furchtbar laut. Zu meiner Zeit war es ruhiger. Dafür stinkt es auf Reisen nicht mehr so stark.“

 „Stinkt nicht? Wieso, Herr Graf?“ fragt Torf.

 „Sie nennen mich Graf? Ich dachte, man wüßte es heute besser. Nun gut, egal. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Sie haben doch jetzt unterirdische Kanäle, in denen Sie all den Unrat wegschaffen können, der früher überall herumlag. Stellen Sie sich vor, Chevalier Torf, die Straßen waren Kloaken und Misthaufen. Allein der Kot der Zug-, Reit- und Tragetiere überall... Man saß wirklich besser gut einparfümiert hoch in Kutschen, anstatt zu Fuß zu gehen. Aber ich frage mich, ob der Lärm nicht doch schlimmer ist.“

 Der Zug fährt ab in Richtung Flensburg.

 „Kommen Sie, Herr Graf, Sie müssen hungrig sein. Gehen wir etwas essen.“

 „Sehr wohl, Chevalier“.

 

 „Ich denke, wir gehen ins Oblomow, das ist eine ganz gemütliche Kneipe.“

 „Ich folge Ihnen gerne, Torf. Hier kennen Sie sich besser aus als ich. Aber... Oblomow, war dies nicht ein russischer Adeliger, der den ganzen Tag faul und nichtstuerisch herumsaß? Hat nicht ein gewisser Gontscharow einen Roman über ihn verfaßt?“

 „Ich dachte, die Figur würde Ihnen gefallen...“ Torf schmunzelt, das Schmunzeln wird zu einem breiten Grinsen.

 „Ach so, jaja.... der Graf von Saint-Germain, die adelige Schmeißfliege... fühlt sich wohl bei seinesgleichen...Chevalier! Ich sage Ihnen: Ich habe hart gearbeitet in meinem Leben! Sie machen sich keine Vorstellung! Es ist nicht so leicht, sich auf meine Weise durchzuschlagen! Aber, lassen Sie uns hineingehen, es sieht tatsächlich gemütlich aus.“

 Sie betreten den Kneipenraum und finden rasch einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen nahe des Fensters mit Blick auf die Fußgängerzone. Rasch ist das Essen bestellt und man kann sich dem Gespräch widmen.

 „Sie sehen, ich bin meinen Grundsätzen untreu. Zu meiner Zeit aß ich niemals Fleisch. Jedenfalls wird es von mir behauptet.“ Saint-Germain lacht schelmisch.

 „Und die Frauen?“

 „Die Frauen? Ach du meine Güte. Wer in einer erotisch aufgeladenen Umgebung nicht sofort unter jeden Rock faßt, gilt doch gleich als Weiberfeind. Sie können mir glauben, ich habe meinen Spaß gehabt, so oder so, aber eben alles in Maßen. Deshalb bin ich auch ziemlich alt geworden.“

 „Kein schlechtes Rezept. Wenn ich Sie so höre, Herr Graf, scheint das Bild, das man von Ihnen entworfen hat, nicht so ganz mit der Wirklichkeit übereinzustimmen.“

 „Wirklichkeit? Ha! Die Menschen bauen sich doch zu allen Zeiten gerne ihre eigene Wirklichkeit zusammen. Sie glauben alles, sofern Sie sich dadurch wohler fühlen. Das ist heute nicht anders als zu meiner Zeit. Sie brauchen Märchen, Legenden und Lügengeschichten. Die nackte Realität ist zu fürchterlich, um sie zu ertragen. Da kommt unser Essen.“

 Torf stochert auf seinem Teller herum. „Es nennt sich Lamm, doch ich bin sicher, es ist Schaf.“

 „Schmeckt es Ihnen denn, Chevalier?“

 „Ja, doch. Eigentlich recht gut.“

 „Sehen Sie, das ist das Wichtigste. Auch ein kleiner Selbstbetrug ist sehr angenehm. Ich bin sicher, es ist Lamm.“

 Nach dem Essen schweigen sie eine Weile. Dann bestellen sie Kaffee, dann Rotwein. An den Tischen ringsum haben weitere Gäste Platz genommen. Wir müssen allmählich zum Wesentlichen kommen, denkt Torf.

 „Sagen Sie, Herr Graf, wie ist die Legende über sie entstanden, und warum? Die Legende vom Mann, der alles weiß und niemals stirbt.“

 „Ach, wenn es nur das wäre..“ Saint-Germain seufzt und nimmt zwei tiefe Schluck Rotwein. „Jeder weiß doch, daß kein Mensch alles wissen kann. Und jeder Mensch mit etwas Verstand weiß auch, daß jeder Mensch sterben muß. Wie ich schon sagte, ein Selbstbetrug ist häufig ganz angenehm. Und manchmal geht es gar nicht ohne ihn. Die Vorstellung, daß mit dem Tod das eigene Leben für immer vorüber ist, können die meisten Menschen nur schwer ertragen. So halten sie sich an einen Glauben, der ihnen versichert, es gehe danach irgendwie weiter. Schlimm ist, daß man eine im Grunde banale Figur wie mich benutzt, um aberwitzigste Theorien aufzustellen. Gibt es denn nicht schon genug Glauben und Aberglauben in der Welt - ich sehe übrigens darin keinen Unterschied - genug Mittel, um den Tod zu verdrängen? Muß man unbedingt mich mit Unsterblichkeit strafen?“

 „Haben Sie es durch ihre Lügengeschichten nicht selbst provoziert, Herr Graf? Aber, ich bitte Sie noch einmal - erzählen Sie, wie es zu alldem kam.“

 „Nun gut. Ich will es versuchen. Aber lassen Sie uns zunächst noch eine Flasche auf Vorrat bestellen. Und machen Sie sich keine Sorgen, Chevalier. Es geht alles auf meine Rechnung.“

 Torf nickt erleichtert.

 

 „Sie haben es schon angedeutet, Chevalier, die Legende über mich habe ich zu einem Gutteil selbst in die Welt gesetzt.

 Da ist zunächst meine ‘unbekannte Herkunft’. Oder nennen Sie es ‘das Geheimnis meiner Geburt’. Wer zu meiner Zeit bei Hofe etwas erreichen wollte - und als Bauer oder Bürger zu placken hatte ich keine Lust - mußte natürlich adeliger Herkunft sein. Und wenn man es nicht war? Erfand man es. Und zwar so, daß niemand diese Erfindung nachprüfen konnte.

 Je nach Situation hat man die eine oder andere phantastische Geschichte parat. Entdeckt ein Zuhörer Widersprüche, so erfindet man einen geheimnisvollen Verfolger, der den Erzähler auf das Schlimmste bedroht, und der auf keinen Fall von der tatsächlichen Identität und Abkunft des Verfolgten erfahren darf. Wo erst mal ein Geheimnis als solches akzeptiert wird, lassen sich leicht weitere erfinden und anknüpfen. Glauben Sie mir, das Publikum ist geradezu erpicht auf unaufgelöste Geheimnisse. Sie müssen aber gut erzählt sein.

 Erwarten Sie nicht, daß ich hier und heute meine Abkunft kläre. Können Sie sich vorstellen, daß ich sie möglicherweise selbst nicht kenne? Es wäre zu abgeschmackt, nach so langer Zeit eine simple Lösung zu präsentieren. Ich kann Ihnen nur soviel sagen, Chevalier: weder bin ich ein Sohn des Fürsten Franz II. von Siebenbürgen, noch ein heimlicher Infant von Spanien. Es ist alles viel banaler, und dabei sollten wir es bewenden lassen. Meine Zeitgenossen wollten es zumeist auch überhaupt nicht so genau wissen. Nur wenige haben wirklich nachgebohrt. Mit ein paar rhetorischen Tricks waren sie schnell besänftigt. Oder ich verschwand rasch unter irgendeinem Vorwand. Im übrigen ist es überhaupt nichts Besonderes, daß meine Herkunft nicht bekannt ist. Das unterscheidet mich nicht von Millionen anderer Menschen meiner Zeit.“

 „Wie entstand denn der Mythos Ihres nach Jahrhunderten zählenden Alters?“

 „Nun, ich habe es einfach behauptet, und schon konnten sich allerlei Leute wundern, wie jung ich bei alledem geblieben sei. Schmeichelei als Gesellschaftsspiel. Sehen Sie, Chevalier Torf, Ihr Alter beispielsweise schätze ich auf etwa vierzig Jahre. Mag sein, Sie haben sehr gesund gelebt wie ich, strenge Diät gehalten, Alkohol und andere Drogen in Maßen genossen. Vielleicht sind sie in Wirklichkeit schon fünfzig. Ist es so?“

 „Zweiundfünfzig.“

 „Chevalier! Ich gratuliere. Das ist schon mal sehr gut für eine Torf-Legende. Jetzt setzen Sie das Märchen in die Welt, Sie verfügten über eine besondere, das Leben sehr verlängernde Tinktur.“

 „Wer soll denn so was glauben?“

 „Richtig, Sie fragen nicht: Wer kann so etwas glauben? Denn jeder kann es, wenn er nur will! Sie fragen richtig: Wer soll es glauben? Sie müssen also genau prüfen, wann, in welcher Situation, Sie diese Geschichte wem erzählen werden. Haben Sie erst einmal ein paar Gläubige gefunden, tragen die es schon weiter - denn wer macht sich nicht gerne mit Sensationen interessant - und schon ist die Legende in die Welt gesetzt. Sie können zum Beispiel auch behaupten, Sie seien in ihrem dritten Leben eine Schildkröte gewesen, jetzt in ihrem fünften seien Sie Herr Torf und trügen sich mit der Absicht, später in einen dann sicher wieder vorhandenen Kaiser von China zu inkarnieren. Ich wette mit Ihnen, Sie werden Jünger finden. Was mich betrifft, so war ich erstens sehr belesen und war zweitens verschiedentlich weit gereist, so daß ich allerlei zu berichten hatte. Da ich, wie Sie wahrscheinlich wissen, bereits zu Christi Zeiten lebte, konnte ich natürlich auch gut auf die Bibel als Quelle zurückgreifen. Und wenn es keine Quelle gab, war es auch gut. Niemand konnte meine tollen Erzählungen nachprüfen. Also, die Leute waren von meinen Geschichten zumeist ziemlich angetan.

 Außerdem war ich im Besitz jener geheimnisvollen Tinktur. In Wahrheit war es bloß ein Abführtee, wie es ihn schon seit Urzeiten gab. Aber ich behauptete, es sei das ‘Lebenselixier’, mit dem man sein Leben fast endlos verlängern könne. Natürlich ist diese Vorstellung geradezu absurd, aber zugleich wunderbar. Man kann es doch erst einmal glauben. Vielleicht gibt einem der Meister aus purer Dankbarkeit ein wenig von dem allseits begehrten Zauberwasser ab? Und dann wird man ja sehen.“

 „Sagen Sie, Herr Graf, sprechen Sie eigentlich aus der Position eines aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts? Ich frage deshalb, weil Sie zu Ihrer Zeit, also im 18. Jahrhundert als Alchemist galten. Ihr vermeintliches Lebenselixier ist ja eine Vorstellung der Alchemie. ‘Adepten’ wie Sie behaupteten, sie seien im Besitz des ‘Steins der Weisen’, den sie aus der ‘materia prima’, einem Urstoff gewinnen könnten. Wer im Besitz dieses Steines war, konnte sowohl Gold, als auch das bewußte Lebenselixier herstellen. Haben Sie selbst daran geglaubt, oder war Ihnen schon damals klar, daß es alles Bluff war?“

 „Ach, Chevalier.... natürlich habe ich lange Zeit versucht, Gold zu machen. Aber irgendwann hat doch jeder Adept gespürt, daß es nicht funktioniert. Gleichzeitig war der Bedarf an Gold gewaltig. Die europäischen Fürsten- und Königshäuser ruinierten mit ihren Kriegen die Staatsfinanzen. Da konnte so mancher Fürst der Versuchung nicht widerstehen, auf uns alchemistische Goldmacher zu hoffen. Das habe ich, wie andere auch, weidlich ausgenutzt. Und es hat sich gelohnt. Ludwig XV. von Frankreich stellte mir sogar das prachtvolle Schloß Chambord für meine Experimente zur Verfügung. Es war eine wunderschöne Zeit. Und das zählt. Alles andere aber...Chevalier, glauben Sie mir: die Leute wollen betrogen sein!“

 „Das ist eine bequeme Ausrede. Der Betrüger ist Täter, der Betrogene Opfer. Daran läßt sich kaum rütteln.“

 Saint-Germain antwortet nicht. Zum ersten Mal mustert Torf das Gesicht des Grafen sehr genau: es hat nichts Südländisches, Mediterranes. Seine weichen Züge erinnern eher an die Gesichter jener Fernsehsprecher, die live aus der New Yorker Börse jüngste Kurssteigerungen oder -zusammenbrüche vermelden. Ein feines Lächeln liegt darauf.

 „Sehen Sie, Chevalier, Sie haben Recht. Ja, ich war ein Schwindler. Ich hätte auch ein anderes Leben führen können, habe es mir aber so ausgesucht. Und diejenigen, die Sie ‘Opfer’ nennen, waren eigentlich noch größere Schwindler. Wer hat denn all den Reichtum der Höfe erarbeitet? Etwa die dort versammelte Adelsschicht samt aller Höflinge, Hofdamen, Mätressen, Günstlinge, Schieber und Betrüger? Ach - es ist eklig. Fragen Sie mich einfach noch etwas.“

 „Das vorgebliche Goldmachen war doch nicht Ihre einzige Profession?“

 „Natürlich nicht. Dann hätte man mich vielleicht irgendwann einen Kopf kürzer gemacht, wie es einigen anderen geschah. Man kann meine Methode ganz gut an meinem Projekt einer Fabrik in Tournai studieren:  Nachdem ich ohne Erfolg und offizielle Legitimation durch die französische Regierung versucht hatte, Frieden zwischen den Parteien des siebenjährigen Krieges zu stiften - meine wirkliche Mission im Haag war es gewesen, für die französische Krone Geld zu beschaffen - ich also bei Nacht und Nebel nach England, also zum Feind, geflohen, von dort ausgewiesen worden war und ich mich heimlich in Holland niedergelassen hatte, brauchte ich irgendwann wieder einmal eine Stange Geld, zumal ich mir ein Anwesen - es hieß Ubbergen - gekauft hatte. Was tun? Gold machen? Wie denn?  Ich kam auf die Idee, mein Glück weiter südlich, in den österreichisch-habsburgischen Niederlanden, dem heutigen Belgien, zu versuchen.

 Unter dem Namen Surmont, was das Gleiche wie Ubbergen bedeutet, reiste ich 1763 über die Grenze und machte die Bekanntschaft des Grafen Karl Cobenzl, Statthalter des Wiener Hofes. Ich führte dem Grafen ein paar einfache, heute würden wir sagen: chemische Experimente vor, in deren Verlauf interessante Kristalle, Farben und Düfte entstanden. Dazu stellte ich eine einfache Metall-Legierung her und färbte ein paar Stoffe und Hölzer ein. Cobenzl wirkte stark beeindruckt. Ich gab ihm zu verstehen, ich verfüge noch über ganz andere, geheime Künste und Fertigkeiten, durch deren Anwendung Millionen zu verdienen seien. Aus reiner und ehrlicher Freundschaft würde ich ihn, nach Zahlung einer kleinen Aufwandsentschädigung, in diese Geheimnisse einweihen. Einer industriellen Anwendung in großem Stil stünde dann nichts entgegen, zu Nutzen der Krone wie des Volkes.

 Cobenzl entflammte wie Phosphor, der mit Luft in Berührung kommt. Schon bald nach unserem ersten Zusammentreffen gab er mir Kunde, daß er in der Besitzerin eines Brüsseler Handelshauses, einer Madame Nettine, eine finanzkräftige Partnerin für unser gemeinsames Unternehmen gefunden habe. Mein Herz begann zu hüpfen.

 In Wien war man weniger entzückt. Graf Kaunitz, Hof- und Staatskanzler Maria Theresias, warnte Cobenzl vor den Machenschaften des ‘berüchtigten Grafen Saint-Germain’. Es entspann sich ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Kaunitz und Cobenzl, in dessen Verlauf Kaunitz Proben der angekündigten Wunderdinge einforderte. Die sorgfältige Überprüfung der Warenproben in Österreich führte zu dem für mich niederschmetternden Ergebnis, daß fast nichts eine größere Investition lohne. Die Farben zum Beispiel seien im Vergleich zu österreichischen, französischen und englischen minderwertig. Die Holz- und Metallproben taugten auch nichts. Lediglich das Urteil über meine Ledererzeugnisse fiel etwas günstiger aus. All dies teilte Kaunitz dann auch der Kaiserin mit, und empfahl, dem Unternehmen jegliche Unterstützung zu versagen. Maria Theresia antwortete: „Placet. Ich billige alle Vorschläge des Kanzlers.“ Damit war die Sache geplatzt.

 Inzwischen war ich nicht untätig gewesen. Cobenzl und Madame Nettine sprühten weiterhin vor Unternehmungsgeist, und Cobenzl schaffte rasch Fakten gegen den skeptischen Kaunitz. Grundstücke, Gebäude und Geräte für Färberei, Gerberei und Hutfabrik wurden erworben. Kosten: 100000 Gulden. Mit Hilfe eines ‘Geschäftsfreundes’ aus Nimwegen, welcher bezeugte, ich, Saint-Germain, besäße zu Hause Wertsachen im Betrag von mindestens einer Million, gelang es mir von der Madame Nettine Vorschüsse auf den zukünftigen Reingewinn der Fabrik zu erwirken: weitere 100000 Gulden. Gott sei Dank - damit war mein Portemonaie erst einmal aufgefüllt.“

 „Verzeihung, Herr Graf, Ihre Geschichte ist sicher höchst interessant,“ unterbricht Torf den Bericht. „Aber meine Frage war doch, wie die Legende über Sie entstanden ist, die Legende vom Mann, der alles weiß und niemals stirbt. Was Sie hier erzählen, belegt doch eindeutig Ihre Rolle als Hochstapler, der weder alles kann noch weiß.“

 „Natürlich, Chevalier, Sie haben vollkommen recht. Doch vor der Legende muß man die Wahrheit zur Kenntnis nehmen, auch wenn die Wahrheit bekannt wird, nachdem die Legende schon lange existiert hat. Der Betrug von Tournai - ich werde die Geschichte gleich noch zu Ende erzählen - ist erst sehr spät an die Öffentlichkeit gekommen, nachdem ein gewisser Gustav Berthold Volz den Briefwechsel zwischen Cobenzl, Kaunitz und der Kaiserin in den Akten des Wiener Hof- und Staatsarchivs aufgespürt und in seinem Buch über mich veröffentlicht hat - dieses 1923 erschienene Buch ist übrigens bis heute die einzige ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit meiner Person. Danach ist nichts wesentlich Neues über mich geschrieben worden, außer einer Unmenge geheimniskrämerischen Unsinns.“

 „Das läßt sich heute ja leicht sagen. Damals haben Sie von Geheimnissen gelebt. Wovon leben Sie eigentlich heute, Graf?“

 „Ich lebe von meiner Legende.“

 „Wie bitte?“ Torf grinst ungläubig.

 „Aber Chevalier, was sonst außer der Legende um mich hielte mich denn am Leben? Etwa die 100000 Gulden Vorschuß der Madame Nettine? Die waren rasch verbraucht. Lassen Sie es mich rasch zu Ende erzählen. Also: die Übernahme des Unternehmens von Tournai durch den österreichischen Staat wurde abgelehnt - übrigens auch mit der stichhaltigen Begründung, daß ein tatsächlich funktionierender Betrieb dieser Größe eine Unzahl örtlicher Handwerker ins Elend treiben würde -, ich verschwand mit dem Geld und gab Madame die Zusicherung, es binnen weniger Monate zurückzuzahlen. Andernfalls könne sie sich aus den Gewinnen des Betriebs, der in ihren Besitz übergehe und der ja mit Hilfe meiner Geheimmittel florieren werde, schadlos halten. Gut, nicht?“

 „Boa ej, also das hat was!“

 „Man hat es, oder hat es nicht, Chevalier Torf.“

 „Was man hat, das hat man.“

 „Ich sehe, wir verstehen uns, Chevalier. Lassen Sie uns noch eine Flasche von dem Bordeaux bestellen.“

 Man bestellt, das Gewünschte wird gebracht. Genießerisch trinkt man einen tiefen Schluck. 

  „Wohin verschwanden Sie nach dieser Affäre?“ hebt Torf wieder an zu fragen.

 „Sagen wir mal: ....nach Rußland.“

 „Und haben Sie dort Ähnliches versucht wie in Belgien?“

 „Ja sicher, von irgendwas mußte ich ja leben.“

 „Sie haben also immer die gleiche betrügerische Masche angewendet?“

 „Im Grunde ja, Chevalier. Ich würde es aber nicht immer als Betrug bezeichnen. Das ist ein sehr hartes Wort. Man denkt unwillkürlich an riesige Gewinne. Manchmal reichte mir ja schon Kost und Logis. Hauptsache war, irgendwo unterzukommen, dann konnte man weiter sehen. Ich war ja nur einer unter einer ganzen Armada von Glücksrittern, die von einem Fürstenhof zum andern unterwegs waren. Allerdings war ich besser und geschickter als viele andere.“

 „Nennen Sie doch noch ein paar Beispiele.“

 „Gut. In Rußland liefen meine Geschäfte ziemlich schlecht. Ich...Ach - da fällt mir ein: zu meiner Legende gehört, ich sei in den russischen Umsturz des Jahres 1762, in die Ermordung des Zaren und Katharinas Machtübernahme verwickelt, das ist Unsinn. Zu dieser Zeit war ich noch in Holland, dann in Belgien. Nach Rußland ging ich später. Es gibt auch keinen Briefwechsel zwischen der Zarin und mir. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich selbst diese Geschichte ausgedacht habe, oder ob es andere taten. Wie auch immer, ich hatte in Rußland Schiffbruch erlitten und war froh, einigermaßen heil nach Mitteleuropa zurückzukehren. Übrigens zu Fuß. Ich trieb mich eine Zeitlang in Italien herum und kam 1774 nach Deutschland. Mit ein wenig Finesse schaffte ich es, eine Einladung des Markgrafen Karl Alexander von Ansbach auf sein Schloß Triesdorf zu erhalten, wo ich als russischer Offizier namens Graf Tsarogy auftrat. Ich setzte dem Markgrafen ein paar Flöhe ins Ohr, und bekam ein Laboratorium zur Verfügung gestellt, wo ich dann meine üblichen Farbexperimente durchführte. Irgendwann vertraute ich dem Markgrafen an, mein Name sei ein Anagramm meines eigentlichen Namens Ragoczy, und ich entstammte diesem uralten Fürstengeschlecht aus Siebenbürgen. Das hat den Markgrafen schwer beeindruckt.

 Unglücklicherweise unternahm der hohe Herr alsbald eine Italienreise, auf der er erfuhr, daß die Rakoczys schon lange ausgestorben seien. Außerdem klärte man ihn darüber auf, daß niemand anders als der berüchtigte Graf von Saint-Germain sich bei ihm eingenistet habe. Nach seiner Rückkehr wollte der Markgraf mir zwar weiterhin Asyl gewähren, verlangte aber die Rückgabe sämtlicher Briefe, die er mir geschrieben hatte. Er befürchtete wohl, ich würde damit zu gegebener Zeit irgendeinen Unfug treiben, indem ich mich auf die Bekanntschaft mit ihm beriefe. Kurz: Meine Möglichkeiten in Ansbach schienen erschöpft. Es war besser, von dort zu verschwinden, und ich ging auf die Wanderschaft.

 Im Herbst 1776 begab ich mich nach Leipzig, wo ich mich gemäß einem in meinem Besitz befindlichen russischen Offizierspatent ‘Graf Welldone’ nannte. Leider zeigten weder der Leipziger Magistrat, noch der sächsische Staatsminister Graf Marcolini Interesse an meinen namensgemäßen Wohltaten zur Beglückung der Menschheit. So verfiel ich auf die Idee, mich an den großen Preußenkönig zu wenden. Nachdem - wie ich heute weiß -...“

 „Moment, Herr Graf. Sie sagen, Sie wissen heute. Woher wissen Sie heute was? Man kann sich doch unmöglich diese ganzen Fakten, Namen, Jahreszahlen merken?“

 „Nun, Chevalier... erstens: Wie Sie wissen, weiß ich ja tatsächlich ‘alles’, und ich ‘sterbe nie’. Das heißt, mein Wissen ist endlos. Aber außerdem habe ich alles, was ich weiß und ermittelt habe, in einem kleinen Gerät gespeichert, das auf gewisse Weise das menschliche Gehirn weit übertrifft, und auf das ich zur Not immer zurückgreifen kann. Sehen Sie!“ Er greift unter den Tisch und holt vorsichtig ein handliches Laptop hervor.

 Torf erkennt den eingravierten Markennamen ‘For ever known’, hebt sein Glas mit einem schrägen Schmunzeln und prostet dem Grafen wortlos zu. Dieser klappt das Laptop auf und schaltet ein.

 „Also - ich fahre fort, Chevalier. Wie ich heute weiß, hatte Friedrich II. durch seinen Gesandten in Dresden, Philipp Karl von Alvensleben, bereits Kunde von meinem Aufenthalt in Leipzig erhalten. In einem Brief vom 15.März 1777 schrieb Friedrich an Alvensleben: ‘Versuchen Sie auch zu ermitteln und teilen Sie mir sofort mit, in welcher Absicht der von Ihnen erwähnte Saint-Germain nach Leipzig gekommen ist. Sie werden es leicht durch Kaufleute erfahren, die Beziehungen zu Leipzig haben.“

 „Das klingt ja, als ob der große Friedrich einen Staatsstreich durch Sie erwartete.“

 „Naja, ganz so wohl nicht. Zwei Tage später schrieb der König an die Prinzessin Wilhelmine von Oranien: ‘Man droht uns hier mit dem Erscheinen eines berühmten Abenteurers, eines gewissen Saint-Germain, der sich in Frankreich und England aufgehalten hat und von dem man Wunderdinge erzählt. Ich mag dies Volk nicht; es hinterläßt gewöhnlich unangenehme Spuren an der Stätte ihres Wirkens. Indes, er ist noch nicht angekommen.’ Friedrich wußte also schon einiges über mich.“

 „Was meint er mit ‘England’?“

 „Er erinnerte sich wohl, daß ich nach meiner gescheiterten ‘Friedensmission’ 1760 dorthin geflohen war. Er hatte mir damals auch einen Aufenthalt in Ostfriesland angeboten. Ich ging aber, wie schon erwähnt, nach Holland. Im übrigen war ich in den vierziger Jahren schon längere Zeit in England gewesen, und hatte dort als Komponist und Musiker einigen Erfolg errungen.“

 „Der sei Ihnen gegönnt, Herr Graf.“

 „Sehr liebenswürdig, Chevalier. Also... Mein Ziel war, Friedrich zu gewinnen. Ich suchte von Alvensleben auf und übergab ihm eine Liste mit meinen Fähigkeiten. Unter dem Titel ‘Neue Physik in Anwendung auf mehrere Handelsartikel, die ebenso wichtig wie neu sind’ führte ich insgesamt neunundzwanzig ‘Verfahren’ auf, von der Gerberei, Veredlung von Wolle, dem Bleichen von Leinwand, Waschen von Seide, der Herstellung von Deckweiß, Silbertressen, Papier, Likör, bis zur ‘Herstellung anderer nützlicher Dinge, über die ich schweige’. Irgendwie mußte der große Fisch doch zum Anbeißen zu bringen sein? Dazu legte ich ein zugegebenermaßen zugleich gestelztes wie ziemlich schleimiges Begleitschreiben an Friedrich mit folgendem Wortlaut: ‘Sire. Von sich selbst anders zu reden als durch Taten, ist durchaus unpassend, wenn man das Glück hat, sich an einen so großen König zu wenden. Eure Majestät werden mir also die Befehle schicken, mit denen Sie mich zu beehren geruhen. Eurer Majestät untertänigster und gehorsamster Diener Graf von Welldone.’ Aber das nutzte leider alles nichts. Der König schrieb an Alvensleben: ‘Ich halte es nicht für angezeigt, dem Herrn Saint-Germain auf seinen Brief unmittelbar zu antworten. Ich ermächtige Sie daher, ihm von mir zu sagen, es stände ihm frei, hierher zu kommen, ihn aber zugleich darauf aufmerksam zu machen, man sei hier sehr ungläubig und glaubte im allgemeinen nur an Dinge, die sich handgreiflich beweisen lassen. Somit täte er gut, sich selbst zu fragen, ob er gewillt sei, seine Wissenschaft und seine Geheimmittel vorzuführen. Sonst würde er hier seine Zeit verlieren, während er sie anderswo vielleicht nützlicher anwenden könnte.’ Was ich in diesem Zusammenhang erwähnen muß, ist, daß Friedrich zuvor schon einige Male auf verschiedenen Hokuspokus hereingefallen war. Das war ihm wohl eine Lehre gewesen. Das wußte ich damals aber noch nicht.“

 „Mit dem Wissen ist es so eine Sache. Man weiß nicht immer alles zu jeder Zeit, Herr Graf.“

 „Sehr fein beobachtet, Chevalier.“

 „Und dann gingen Sie nach Schleswig-Holstein?“

 „Zuvor lebte ich noch etwa ein Jahr in Berlin, eher zurückgezogen. Mir wurde klar, daß ich mir allmählich einen Altersruhesitz suchen mußte, einen Platz, wo ich noch ein paar geruhsame Jahre zubringen könnte. Ich reiste in den Norden, nach Hamburg. In Altona machte ich mich an den Landgrafen Carl von Hessen heran, der als Statthalter des dänischen Königs auf Schloß Louisenlund residierte.“

 „Was ich so über ihn gehört habe, ist, daß er eine politisch eher unbedeutende Rolle spielte und sich die Zeit mit allerlei Spintisierereien vertrieb.“

 „Daran ist viel Wahres, Chevalier; die eigentliche Macht über die beiden Herzogtümer lag  beim Hof in Kopenhagen und der dort angesiedelten deutschen Kanzlei; Carl von Hessen war bloß eine Art Repräsentationsfigur, zu sagen hatte er praktisch nichts. Er hatte viel Zeit für alles außer Politik, sonst hätte er sich auch nicht mit mir abgegeben. Ich siedelte 1779 ins Herzogtum Schleswig über. Carl erwarb von der Stadt Eckernförde das leerstehende Gebäude der Otteschen Manufaktur, wo ich eine Farbenfabrik einrichten durfte. Ich spielte also ein ähnliches Spiel wie in Tournai. Aus der Fabrik wurde natürlich nichts, aber ich wohnte in dem Gebäude, hatte also wenigstens einen Platz, wo ich mein Haupt niederlegen und sterben konnte. Das geschah 1784. Man begrub mich in der Nicolaikirche. Es gibt ein amtliches Verzeichnis über meinen Nachlaß; er bestand hauptsächlich aus Kleidungsstücken sowie anderen alltäglichen Nutzgegenständen. Meine Barschaft betrug 82 Reichstaler und 13 ½  Schilling. Carl von Hessen hat Briefe und andere Schriftstücke einbehalten, wahrscheinlich um alles irgendwie für ihn Peinliche zum Verschwinden zu bringen.“

 Saint-Germain verstummt, senkt den Blick, bläst Atem aus durch die Nase. Von der Küche hinter dem Kneipentresen klingt Tellergeklapper herüber.

 „Wir alle leben unser Leben dem Leben und der Welt zugewandt, aber zum Schluß sterben wir zumeist einsam und verlassen....“

 „Ach Herr Graf! Kommen Sie, erzählen Sie endlich von der Legende um Sie, von Ihrem zweiten Leben!“ rief Torf.

 „Zweites Leben? Chevalier, daß ich nicht lache! Das ist kein Leben, das ist.... ein Witz! Die Überlebenden machen mit einem was sie wollen. Es ist Leichenfledderei! Man benutzt die Toten! Sie können sich nicht wehren.“

 „Soll ich dies als Klage auffassen, Graf? Entstanden nicht zu Lebzeiten schon Legenden um Sie? Haben Sie sich dagegen gewehrt?“

 „Nein. Diese Legenden gehörten zum Geschäft.“

 „Also wundern Sie sich, daß andere auf ihre Weise diese Geschäfte fortsetzten? Aber.... Herr Graf, ich traf sie nicht, um Sie anzuklagen. Erzählen Sie einfach, wie alles begann.“

 „Gut, Chevalier. Also die Legende entstand schon zu meinen Lebzeiten. Ich habe sie selbst in die Welt gesetzt, wir sprachen eingangs schon davon. Andere haben dann diese Geschichten fortgesponnen, zum Beispiel kursierten allerlei Gerüchte über wundersame Verjüngungen infolge meines Zauberwassers. Einmal soll sogar eine erwachsene Frau sich zum Säugling zurückverwandelt haben. Kern des Ganzen ist wahrscheinlich die Geburt irgendeines unliebsam ausgetragenen Kindes, für dessen Entstehung eine Erklärung fabriziert werden mußte. Nun - immerhin besser, als das Kind zu ersäufen.

 Es gab eine Reihe von Doppelgängern des Grafen Saint-Germain. Da haben sich wohl manche einen kleinen Scherz erlaubt oder haben ganz bewußt in meinem Revier geräubert. Jedenfalls wurde mir so manches zugesprochen, was ich niemals getan, worin ich niemals verwickelt war. Die bekannteste Verwechslung ist die mit dem Grafen Claude Louis de Saint-Germain. Der Mann lebte von 1707 bis 1778, war Armeeoffizier in Diensten Frankreichs, Dänemarks und Norwegens. Diese Verwechslung lebt bis in die Gegenwart fort. Sie haben doch sicher schon einmal etwas von Rudolf Steiner und seiner anthroposophischen Lehre gehört, Chevalier?“

 „Man kann das Waldorf auch hier in Eckernförde nicht übersehen.“

 „Eigentlich müßte diese Geschichte später kommen, aber sie ist so lustig, daß ich nicht umhin kann, sie schon jetzt zu erzählen. Für Rudolf Steiner bin ich einer der vier größten Weisen, - er nennt sie ‘Meister’ - an verschiedenen Stellen seiner mehrere hundert Bände umfassenden gesammelten Werke werde ich erwähnt, also auch im Gesamtregister. Und was steht da auf Seite 385? Sie werden es nicht glauben, aber man findet den Eintrag ‘Saint-Germain, Claude Louis Graf von’, mit sämtlichen Fundstellen meine Person betreffend, bzw. die Person betreffend, die sich Steiner herbeiphantasiert hat.“

 „Das ist wirklich lustig. Steiners Jünger wissen nicht einmal über einen der ihnen vom Guru empfohlenen vier ‘Meister’ richtig Bescheid.“

 „Ja, es wirft ein bezeichnendes Licht auf diese Art ‘freie Geisteswissenschaft’. Ich komme noch dazu. Bleiben wir bei der Chronologie. Im Jahre 1836, also zweiundfünfzig Jahre nach meinem Tod, veröffentlichte ein gewisser Etienne Léon de Lamothe-Langon, seines Zeichens Romanschriftsteller, ein Elaborat mit dem Titel ‘ Souvenirs sur Marie-Antoinette et sur la cour de Versailles par Madame la comtesse d’Adhémar, dame du palais’. Die bewußte Hofdame, Gräfin d’Adhémar, ist laut Volz ein reines Produkt dichterischer Phantasie des Autors, hat also niemals gelebt. Diese Gräfin jedoch hat mich angeblich nach meinem Tode am französischen Hofe gesehen, wo ich, Saint-Germain, den König vergebens vor dem Ausbruch der Revolution gewarnt habe. Man glaubte nicht an meine hellseherischen Fähigkeiten und mußte das Schreckliche über sich ergehen lassen, Sturm auf die Bastille und Jakobinerherrschaft. Wohl aus Enttäuschung habe ich dann, so die erfundene Gräfin, mich im Jahre 1790 für eine Zeitlang in den Orient begeben, um dort auszuruhen.“

 „Eine Zeitlang, was heißt das, Herr Graf?“

 „Gut, daß sie nachfragen, Chevalier. Ich habe, so die Legende, nämlich kurz vor meinem Abgang noch die Prophezeiung abgegeben, ich werde genau nach fünfundachtzig Jahren wiederkehren. Und wissen Sie, was in diesem Jahr 1875 geschah?“

 „Warten Sie..... der deutsch-französische Krieg war vorbei.... Gründerzeit... von der Rückkehr eines Grafen von Saint-Germain weiß ich nichts.“

 „Sie wissen nicht, welches welthistorische Ereignis in diesem Jahr geschah?“

 „Ich müßte nachschlagen.“

 „Chevalier, hören Sie: Frau Helena Petrowna Blavatsky gründete in diesem Jahr in New York die Theosophische Gesellschaft! Und das wissen Sie nicht?“

 „Was ist denn das für ein Verein? Philosophen, die Tee trinken?..... Na gut, ich habe schon mal davon gehört, Steiner selbst gehörte ursprünglich dazu und hat dann später, 1913, weil er sich mit der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, Annie Besant, zerstritt, den Anthroposophen-Club gegründet, heute die oberste Kirche für alle Waldorf-Jünger.“

 „Sie drücken sich recht flapsig aus, Chevalier. Lassen Sie uns die Sache etwas ernsthafter und genauer betrachten.“

 „Gut, aber eines müssen Sie mir zuvor erklären: wieso ist die Gründung einer Gesellschaft zugleich die Rückkehr eines gewissen Grafen? Das scheint mir doch sehr an den Haaren herbeigezogen. Nein - eigentlich nicht einmal das. Es gibt keinerlei Sinn.“

 „Das ist richtig. Es gibt keinen Sinn. Hören Sie, was Steiner dazu sagt. In einem Artikel in der theosophischen Zeitschrift ‘Gnosis’ hatte eine Isabella Cooper-Oakley einen angeblichen Ausspruch von mir zitiert. Er lautet: ‘Ich werde gegen Ende des Jahrhunderts aus Europa verschwinden und mich in die Regionen des Himalaja begeben. Ich werde mich ausruhen, ich muß ruhen. Man wird mich in 85 Jahren Tag für Tag sehen.’ Diese Sentenz, die Blavatsky der angeblichen Gräfin d’Adhémar abgekupfert hatte, die dann meine Biographin Cooper-Oakley kolportierte, schmückt Steiner noch weiter aus: ‘Vor der französischen Revolution erschien bei einer Hofdame der Königin Marie-Antoinette, der Madame d’Adhémar, eine Persönlichkeit, die alle wichtigen Szenen der Revolution voraussagte, um davor zu warnen. Es war der Graf von Saint-Germain, dieselbe Persönlichkeit, die in früherer Inkarnation den Orden der Rosenkreuzer gestiftet hat. Er vertrat damals den Standpunkt: die Menschen müßten in ruhiger Weise von der weltlichen Kultur zu der wahren Kultur des Christentums geführt werden. Die weltlichen Mächte wollten sich aber die Freiheit im Sturm, in materieller Weise erobern. Zwar sah er die Revolution als notwendige Konsequenz an, aber er warnte doch davor. Er, Christian Rosenkreutz, in der Inkarnation vom 18. Jahrhundert, als Hüter des innersten Geheimnisses vom Ehernen Meer und vom heiligen goldenen Dreieck, trat warnend auf: die Menschheit sollte sich langsam entwickeln. Doch schaute er, was vor sich gehen würde.’ So gesagt in einem Steiner-Vortrag mit dem Titel ‘Das Mysterium der Rosenkeuzer’, gehalten am 4.November 1904.“

 „Das ist ja furchtbar. Steiners Jünger haben wohl jeden Ausspruch des Meisters mitstenographiert?“

 „Es scheint so, Chevalier. Zum Glück ruhe ich nicht mehr im Fußboden der Eckernförder Nicolaikirche. Meine Rotierung im Grab angesichts dieses kruden Unsinns hätte schon längst das altehrwürdige Gebäude zum Einsturz gebracht. Bezeichnend für Steiner ist auch folgender Ausspruch, die geheimnisvolle Frist von fünfundachtzig Jahren betreffend: ‘Diese Dinge hängen alle in einer bestimmten Weise zusammen.’  Worin die ‘bestimmte Weise’ besteht, erfährt man allerdings nicht, die ist geheim, da sie nur auf einer sehr hohen Stufe des Steinerschen Denksystems verstanden werden kann. Sie und ich sind noch lang nicht so weit.“

 „Müssen wir noch einige Male inkarnieren, Herr Graf! Haben Sie noch mehr von diesen aufschlußreichen Steiner-Anekdoten?“

 „Gewiß. In einem Vortrag vom 16.Dezember 1904 gab Steiner einen angeblichen Ausspruch Saint-Germains die drohende Revolution betreffend zum Besten: ‘Wer Wind sät, der wird Sturm ernten.’ Und ich habe laut Steiner außerdem hinzugefügt, daß ich ‘dieses Wort schon vor Jahrtausenden gesagt und es dann Christus wiederholt hat’. Mit anderen Worten: Jesus hat mich nachgeplappert.“

 „Höre ich recht? Sie sind Jesus zuvorgekommen?“

 „Sie haben richtig gehört.“

 „Sind Sie vielleicht auch der heimliche Verfasser der Offenbarung des Johannes?“

 „Warum nicht? Im Steinerschen Wahnsystem wäre auch dafür Platz.“

 „Was hat er noch so über Sie von sich gegeben?“

 „Wie schon gesagt, bin ich einer der ‘vier Meister’; da gibt es den Meister Morya, er steht für ‘Kraft’; dann ist da ein Meister Kuthumi, er steht für ‘Weisheit’; der dritte bin ich, Saint-Germain, ‘an ihn wendet man sich in Schwierigkeiten des täglichen Lebens’; dann gibt es noch Jesus, er verkörpert ‘das Intimere im Menschen’. Diese vier Meister sollen angeblich in ‘unserer (das heißt: in der theosophischen) Bewegung mitwirken’. Ausgedacht und propagiert haben dies alles die Theosophinnen Blavatsky und Besant; Steiner hat es zu einer Zeit, zu der er noch im gleichen Verein war wie sie, nachgebetet.“

 „Ist schon sehr ehrenvoll, mit einem Meister, der auf der Stufe eines Jesus Christus steht, hier am Kneipentisch zusammenzusitzen und einen guten Wein zu ziehen.“

 „Nutzen Sie die Situation. Haben Sie Sorgen, Chevalier, so sprechen Sie sich aus; an mich wendet man sich in Schwierigkeiten des täglichen Lebens. Ich sehe Falten auf Ihrer Stirn. Schauen Sie in sich, und dann reden Sie. Der Alkohol hat vielleicht Ihre Zunge ein wenig gelöst. Nur Mut! Oder möchten Sie lieber nach Hause meditieren gehen?“

 „Das kann ich immer noch. Außerdem geht es mir ganz gut. Erzählen Sie weiter, was hat Steiner noch gesagt?“ Torf schiebt das Weinglas ein wenig von sich zur Tischmitte.

 „Also....Ich zitiere: ‘St.G. [Saint-Germain] vermittelt die Theosophie so, daß sie den Ansprüchen des gebildeten Europäers genügt. Ist jetzt der wichtigste Meister.’ Verstehen Sie, Chevalier? Ich stehe noch über Jesus!“

 „So was ähnliches habe ich mir schon fast gedacht. Sehr schmeichelhaft für Sie. Man duldet doch nicht gern Götter neben sich. Können Sie mir als gebildetem Europäer einmal erklären, was Theosophie eigentlich ist, bzw. wie sie entstand?“

 „Ja sicher, aber wann schließen eigentlich Gasthäuser heutzutage? Um vier Uhr morgens? Denn solange etwa würde die Erfüllung Ihres Wunsches dauern.“

 Vom Kneipentresen sind bereits einige typische Geräusche der baldigen Schließung zu vernehmen. Torf lehnt seine Arme auf den Tisch, legt den Kopf leicht schräg auf seine rechte Schulter. „In aller Kürze, Graf.“

 „Nun gut. Theosophie ist eine sehr alte, der Antike entstammende Denkrichtung. Die jüngere Theosophie ist aus dem Spiritismus entstanden. Voraussetzung für beides ist die Annahme einer Geisterwelt, die irgendwo über, neben oder unter unserer Alltagsrealität existiert. Der spiritistische Wahn ergriff im 19.Jahrhundert breite Kreise der bürgerlichen Gesellschaft. Geister klopften vieler Orten, Tische rückten, aus sogenannten Medien sprachen die Seelen Verstorbener. Als immer häufiger Schwindel und Betrug im Zusammenhang mit diesen Phänomenen aufflogen, verflüchtigte sich der Spuk, löste sich auf in Nichts. Spiritismus, der nach den Materialisationen von Geistern suchte, also gewissermaßen einen Weg von außen nach innen beschrieb, wurde in Theosophie verwandelt. Diese sucht, wie auch später in abgewandelter Form die Anthroposophie, einen Weg von innen nach außen: man nimmt an, der Mensch besitze eine substantielle Seele; diese gelte es durch bewußt geübte Psychotechniken dahin zu bringen, die in ihr schlummernden Organe auszubilden, welche dann zur Erfassung des Übersinnlichen, Geisterhaften befähigten. Blavatsky übrigens, die 1875 die Theosophische Gesellschaft gründete, war Tochter eines russischen Grafen...“

 „Oh - ein Mann Ihres Standes!“

 „...sehr wohl... Ihr Oblomow geht Ihnen wohl nicht aus dem Kopf, wie? Nun gut: Tochter eines russischen Grafen, wurde Blavatsky von ihrer Verwandtschaft für von Geistern besessen gehalten, und exorzistischen Riten unterworfen.“

 „Das schreit ja geradezu nach späterer rationaler Verarbeitung dieses Kindheitstraumas.“

 „Rational aber nur in einem allgemein psychologischen Sinn, Chevalier: die Ausformung von Gedanken dient der Verarbeitung eines Traumas. Denn mit Vernunft hat ihr Gedankengebäude, eine Mischung aus Magie, Spiritismus, fernöstlichen Religionen und allen möglichen okkulten Weltauffassungen, wenig zu tun. In ihrem umfangreichsten Werk, der ‘Geheimlehre’, findet sich fast alles, was heute noch Anthroposophen als ‘Geisteswissenschaft’ ausgeben. Versuchen Sie mal, das zu lesen, Chevalier. Wenn Sie nicht schon etwas wirr im Kopf sind, halten Sie es keine zehn Seiten aus. Und ich halte Sie nicht für verwirrt. Ich hoffe, Sie klappen die Schwarte nach drei Sätzen wieder zu.“

 „So ging es mir vor einiger Zeit mit Steiners Werken. Ich blätterte in einigen Bänden der Gesamtausgabe und stieß auf ‘Erkenntnisse’ wie diese: läsen schwangere weiße Frauen ‘Negerromane’, würden sie später ‘Mulatten’, also Mischlinge gebären - eine offenbar furchterregende Vorstellung für Steiner. An anderer Stelle wurde ein Hohelied auf blondhaarige und blauäugige Arier angestimmt. Unerträglich! Ich finde es erschreckend, daß intelligente Menschen heutzutage ihre Kinder auf eine Schule schicken, deren Begründer rassistische Ideen propagierte.“

 „Chevalier, ich glaube, die meisten Eltern von Waldorfschülern kennen den Inhalt der Steiner-Schriften gar nicht. Der Vergleich mag zwar stark hinken, aber die Masse der Deutschen hat seinerzeit auch Hitlers ‘Mein Kampf’ nicht gelesen.“

 „Darüber lohnt sich nachzudenken. Aber - wir sind ziemlich von unserem Thema abgeschweift. Was hat Steiner zu Ihnen, Herr Graf, weiter ausgeführt?“

 „Ich erwähnte ja schon, ich bin einer der ‘vier Meister’, zeitweise sogar der ‘wichtigste’. Außerdem - und nun halten Sie sich fest - besitze ich als einziger die Kopie eines Manuskriptes aus der Vatikanischen Bibliothek in Rom, worin ‘aufgeschrieben’ sei, was Pfingsten ‘im tieferen Sinne bedeutet’. Hätten Sie das gedacht?“

 „Pfingsten. Was haben Sie mit Pfingsten zu tun?“

 „Das weiß Steiner allein. Er hat am Pfingstmontag 1904 einen Vortrag gehalten, darin taucht diese Behauptung auf. Interessant ist die Art und Weise, wie Steiner einerseits die mysteriösesten, abstrusesten Gedankengänge entwickelt, sich andererseits ständig absichert und herausredet, damit keiner seiner Zuhörer ihn irgendwie festnageln kann, bzw. auch nur einen Grund zur Nachfrage besäße. Gleich zu Beginn seines Vortrags stellt er klar: ‘Was ich nun heute sagen werde, entstammt einer alten okkulten Tradition. Der Stoff kann natürlich heute nicht erschöpft werden. Manches wird sogar unglaubhaft erscheinen. Ich bitte daher, die heutige Stunde als eine Episode zu betrachten, in der nichts bewiesen, sondern einfach Dinge erzählt werden.’ Das heißt: Der Zuhörer ist verurteilt, alles zu glauben. Ich zitiere: ‘...eine Kopie besitzt der Graf von Saint-Germain, von dem wohl die einzigen Mitteilungen stammen, die es in der Welt davon gibt.’ Basta. Ich frage mich, wo soll es denn von mir eine Mitteilung über dieses Manuskript aus der Vatikanischen Bibliothek geben? Ich kenne diese Mitteilung nicht. Das Ganze ist eine glatte Erfindung, und Steiner benutzt meine Person als Beleg.“

 „Der Ausdruck ‘Dinge’ ist ja auch putzig. Dinge gibt es zwischen Himmel und Erde....“

 „Genau, es ist dieses für Steiner typische geheimnisvolle Geraune, das sich jedoch auf ganz banale, handfeste materielle Tatsachen bezieht, in diesem Fall ein angeblich existierendes Manuskript. Gegen Ende seines Pfingstvortrags spricht er dann noch einmal von ‘geheimen Manuskripten’, die ‘in verborgenen Räumen kaum jemand gesehen hat.’ Sollte Steiner dies tatsächlich selbst geglaubt haben, war er irre. Ich selbst wußte genau, wann ich schwindelte. Bei Steiner ist es schwierig zu entscheiden, ob er verrückt oder ein geschickter Scharlatan war. Man kann seine Texte auch kaum metaphorisch deuten; sie sprechen ja nicht in Bildern, sondern in platten Behauptungen.“

 „Haben Sie noch mehr Steiner-Anekdoten?“

 „Ich habe, ehrlich gesagt, wenig Lust, mich mit diesem dürren Zeug weiterhin zu befassen. Nun gut, vielleicht Eines noch. Es ist doch von einiger Wichtigkeit. Und zwar stellt Steiner in einem Vortrag über das ‘rosenkreuzerische Christentum’ (1911) die These auf, ich, Saint-Germain, sei ‘im achtzehnten Jahrhundert die exoterische Wiederverkörperung von Christian Rosenkreutz gewesen.’ Also nicht im Sinne einer geheimen Symbolik, sondern ganz offenbar sei dieser Rosenkreutz in mir wiederauferstanden. Aber es kommt noch schöner: ‘von den Ausstrahlungen seines’, des Rosenkreutz,  ‘Ätherleibs’ sei zu Zeiten Steiners die Inspiration für das Werk ‘Die entschleierte Isis’ der Blavatsky ausgegangen. Chevalier, ich möchte Sie und mich nun eigentlich nicht länger mit den Steinerschen Ergüssen quälen.“

 „Das kann ich verstehen. Aber mir wird doch allmählich klar, daß jene theosophisch-anthroposophischen Hirngespinste eine Voraussetzung für die gegenwärtige Saint-Germain-Begeisterung bilden. Insofern interessiert es mich schon, was nach Steiner kam, was seine Jünger taten in Nachfolge ihres Meisters.“

 „Natürlich. Aber, sagen Sie Chevalier, wie ist Ihnen eigentlich das Schaf bekommen?“

 „Das Schaf?“

 „Das Lamm vorhin.“

 „Ach so, ausgezeichnet! Ich habe es in meinen physischen Leib aufgenommen und bereits zur Hälfte verdaut. Es verwandelt sich in reine Energie, die mich zu verstärkter spiritueller Tätigkeit zur Ausbildung meines Äther- sowie Astralleibes einschließlich sämtlicher Organe zur Erfassung höherer geistiger Welten befähigt. Da fällt mir etwas ein. Möchten Sie vielleicht auch von mir einmal eine kleine Geschichte hören?“

 „Warum nicht?“

 „Schön, Herr Graf. Wußten Sie eigentlich, daß es nicht nur einen Grafen, sondern auch einen König von Saint-Germain gab?“

 „Was?! Einen König?“

 „Einen König. Ich sehe Sie peinlich berührt, Graf?“

 „Nun ja - es.... aber klären Sie mich doch auf, Chevalier.“ Saint-Germain reibt ein paarmal seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Sein Blick irrt auf der Tischplatte umher.

 „Kein Grund zur Beunruhigung. Es hat eigentlich gar nichts mit Ihnen zu tun. Im Pariser Stadtteil Saint-Germain lebte und wirkte in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein gewisser Boris Vian, Jazztrompeter, Chansonier und Autor skurriler Erzählungen und Romane. Der Mann war ein enfant terrible und Wortführer der Kunst- und Literaturszene von Paris. Irgendwann erhielt er den Beinamen ‘Der König von Saint-Germain’. Er hat ein berühmtes antimilitaristisches Gedicht verfaßt: ‘Der Deserteur’. Es wurde zeitweilig verboten.“

 „Ach so...“ Saint-Germains Gesicht entspannt sich.

 „Sehen Sie, es hat kaum etwas mit Ihnen zu tun. Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. In der Eckernförder Zeitung erschien eines Tages die Rezension einer neu erschienenen Biographie über Vian, Titel: ‘Der König von Saint-Germain’. Und was geschah daraufhin? Am nächsten Tag kam ich ins Gespräch mit einem älteren, weißhaariger Herrn, wie ich heute weiß: Lebensgefährte einer Eckernförder Autorin und begeisterten Verehrerin des Grafen von Saint-Germain. Endlich, so der alte Herr, nehme sich in Eckernförde jemand des Themas ‘Saint-Germain’ an, das würde aber auch höchste Zeit! Als ich ihn auf seinen Irrtum hinwies, trottete er leicht verzagt von dannen.“

 „Chevalier, da fehlen mir fast die Worte... Aber wenn ich Sie so grinsen sehe, muß ich doch fragen: Haben etwa Sie diese Buchbesprechung verfaßt?“

 „Erraten! Ich wollte die Gemeinde ein wenig provozieren! Daß jemand das Wort ‘König’ einfach überliest, hat mich aber doch erstaunt. Wollen wir zu den Steiner-Jüngern zurückkehren?“

 „Nun gut, Chevalier.“ Saint-Germain verzieht den Mund ein wenig säuerlich. „Ja, was kam ‘nach Steiner’..... Zunächst muß ich betonen, daß alle theosophisch-anthroposophischen Spekulationen, die ich bisher erwähnt habe, verfaßt wurden, bevor Gustav Berthold Volz Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein wenig Licht in das mystische Dunkel brachte, das meine Person bis zu diesem Zeitpunkt umgab. Er fand im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin, in der Wolfenbütteler Landesbibliothek sowie im Hof- und Staatsarchiv in Wien bis dato der Öffentlichkeit unbekannte Dokumente, die mich als das entlarvten, was ich tatsächlich war: ein Abenteurer, Gaukler und Betrüger. All dies ließ und läßt sich in Volz’ Buch nachlesen.

 Allein - den Gläubigen ficht so was nicht an, damals nicht und heute nicht. Ich will Ihnen einige Beispiele vorführen. Da ist zunächst ein Autor namens L.A. Langeveld, ein Holländer, vermutlich kein Anthroposoph, sondern eher Freimaurer oder Rosenkreuzer. Darunter darf man sich sehr wohl alles mögliche vorstellen, denn Freimaurer- wie Rosenkreuzertum bestehen aus den unterschiedlichsten Sekten und Richtungen, wobei bezeichnenderweise ein Christian Rosenkreutz, der angebliche Begründer jener nach ihm benannten Bruderschaft, niemals existiert hat. Weder wurde er 1378 geboren, noch ist er 1484 im Alter von 106 Jahren gestorben. Das Ganze ist die Erfindung einiger Tübinger Theologen zu Beginn des 17.Jahrhunderts, Repräsentanten einer schwärmerisch-oppositionellen Strömung im Protestantismus. Der Bekannteste von ihnen, Johann Valentin Andreae, verfaßte mit ziemlicher Sicherheit die Schrift ‘Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459’, erschienen 1616. Weitere Urschriften der Bruderschaft waren die ‘Fama fraternitatis’ sowie die ‘Confessio’, Texte, auf die sich noch heute alle, die sich für Rosenkreuzer halten, gern berufen. Aber zurück zu Langeveld. Dieser hat 1930 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel ‘Der Graf von Saint-Germain’, aber mit folgendem Untertitel: ‘Der abenteuerliche Fürstenerzieher des 18. Jahrhunderts’. Meine Schwindeleien werden somit zu einer Art Erziehungsprogramm für Fürsten umgedeutet. Das klingt zwar schmeichelhaft für mich, ist aber im Grunde eine Beleidigung für den ehrenwerten Berufsstand der Pädagogen!

 Der Text des Buches birgt so manches Rätsel. Langeveld beginnt mit einer ausführlichen Schilderung des Lebens von Franz Rakoczy II. von Siebenbürgen. Nirgendwo wird gesagt, was dies mit mir, dem Biographierten, zu tun haben soll. Und so geht es fort. Kapitel für Kapitel wird ohne inneren Zusammenhang aneinandergereiht, Figuren tauchen auf und verschwinden, meist ohne erkennbaren Zusammenhang mit Saint-Germain. Im Kapitel drei werde ich dann als ‘Fürstenerzieher par excellence’ bezeichnet. Wieso? Ein Geheimnis.

 Mein Betrug in Tournai, mein Verschwinden mit hohen Schulden, wird folgendermaßen beschönigt: weil nirgendwo etwas anderes überliefert sei, dürfe man ‘annehmen, dass Saint-Germain, welcher immer pünktlich zahlte, wofern er nicht durch höhere Gewalt daran verhindert wurde, auch diese Schuld wie ein ehrlicher Mann beglichen haben wird, sodass schließlich sowohl Maria Theresia, wie auch Kaunitz, und all seine damaligen und jetzigen Feinde sich mehr kompromittiert haben als der Graf von Saint-Germain, welcher sie alle an Kenntnissen und Tugend übertroffen hat.’ Oder eine andere ‘Erkenntnis’ Langevelds: nach meinem angeblichen Tode sei ich in Südfrankreich als Freimaurer unter meinem ‘Ordensnamen Eques a capite galeato, Großmeister von Languedoc’ tätig gewesen. Irgendeinen Beweis dafür gibt es nicht.

 Dieses Buch ist größtenteils ein Sammelsurium abstruser Behauptungen. Es erschien 1993 als Nachdruck in zweiter Auflage in einem ‘Saint Germain Starczewski Verlag’ in Deutschland mit einem Vorwort des Verlegers und Herausgebers, das folgendermaßen beginnt: ‘Im März 1981 wurde ich in Tampa in Florida USA am Ende eines metaphysischen Trainings von Saint Germain auf meiner rechten Schulter berührt und gesegnet und noch heute, nach vielen Jahren, spüre ich die Hand auf meiner Schulter. Er gab mir den Auftrag, im Mittelpunkt Europas, in Höhr-Grenzhausen bei Koblenz, sein Geist- und Heilzentrum auf einem alten Keltischen Tempelbezirk aufzubauen, der vor 8750 Jahren von der Valuspa, einer Druidin, der Begründerin der keltischen Rasse ins Leben gerufen worden war.’ Können Sie mir noch folgen, Chevalier Torf? Sie wirken müde.“

 „Oh ja, ich folge Ihnen wohin Sie auch wollen, Graf. Ich dachte nur darüber nach, wie wohl dieser Herr Starczewski im allgemeinen seinen Lebensunterhalt bestreitet.“

 „Nun, das ist nicht schwer zu erraten, Chevalier. Hören Sie: ‘Zu Beginn meiner Arbeit als Geistheiler und -lehrer wurde ich erst einmal davon unterrichtet, daß Saint Germain als Josef mit Maria verheiratet war, die das Jesuskind gebar’. Ist das gut?“

 „Saint-Germain als Josef, putzig. Als Josef bin ich in der vierten Klasse auch mal im Weihnachtsmärchen aufgetreten. Das war ganz schön aufregend. Ich habe dauernd versucht, mich hinter einem Pfeiler der Aula zu verstecken.“

 „Hören Sie weiter: ‘Nach meiner Berührung durch Saint Germain in den USA wurde ich von IHM und von dem Sonnengott RA im Juni 1981 vierzehn Tage in dem neuen Geist- und Heilzentrum in Höhr-Grenzhausen im Beisein von ca. 10 Personen unterrichtet und als Medium diente mir eine spanische hochspirituelle Gräfin’. Beantwortet das Ihre Frage nach Starczewskis Lebensunterhalt?“

 „Vollkommen, der Mann hat ausgesorgt. Und nicht nur er. Zum Beispiel fand kürzlich in der Gegend von Eckernförde eine ‘Erlebnis-Reise’ auf den Spuren Saint-Germains statt. Haben Sie davon gehört?“

 „Natürlich, habe ich alles im Laptop. Das Ereignis fand statt vom 28.5. bis 1.6.03. Es gab interessante Veranstaltungen u.a. zu folgenden Themen: ‘Das innere LICHT’, ‘Die Anwendung der 3 Lichter’, ‘Ich bin die eine Kraft, eine kleine ICH-BIN-LEHRE’, ‘Wahre Alchymie, ‘Weisheit, Liebe und Fülle, erlebe sie im Märchen und in Dir’, und so fort. Natürlich Besuch auf Louisenlund, Schiffahrt auf Schlei und Eckernförder Bucht. Kosten: 480.- Euro, und 30.- Euro Aufpreis für Einzelzimmer.“

 „Nun sind wir aber in rasantem Tempo in der Gegenwart angelangt; mich interessiert immer noch, was Steiners Jünger seinerzeit verzapft haben.“

 „Das eine ist vom anderen nicht leicht zu trennen. Es gibt zum Beispiel einen ‘Saint-Germain-Zweig in der Anthroposophischen Gesellschaft’, gegründet 1997.“

 „Davon habe ich noch nichts gehört. Was will denn dieser Zweig? “

 „Er will....’den Rahmen bilden für den Zusammenschluß all jener Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, die - unabhängig von ihrem Wohnsitz - in der Aufgabe zusammenwirken wollen, einen Beitrag zu leisten dafür, daß die von Rudolf Steiner begründete Geisteswissenschaft (Anthroposophie) in all ihren Dimensionen die Erdenzivilisation durchdringen kann.’ Beachten Sie die blumige Sprache, sie ist fast so schön wie die Sprache des Meisters. ‘Erdenzivilisation’... Also für Marsmenschen und Mondkälber ist es nichts. Dann heißt es noch: ‘Mit seinem Wirken will der Zweig eine aktive Verbindung aufnehmen zu dem Wirken und den Impulsen des Grafen Saint-Germain (1696-1784), des ‘Meisters von Europa’ und Inspirators jener geistigen Strömung, welche der Gleichheit und Brüderlichkeit als Orientierung für die Pflege des seelischen Lebens in der menschlichen Gesellschaft bewußt machen möchte.’ Natürlich kommt dann noch der ganze Vereinsquark: Zweigleitung, Zweigvorstand, wer was darf und was nicht.“

 „Jetzt werde ich wirklich müde, Graf.“

 „Chevalier, passen Sie noch einmal auf. Ist Ihnen an dem Text gar nichts aufgefallen? ‘Gleichheit’? ‘Brüderlichkeit’?“

 „Die Parolen der französischen Revolution!“

 „Richtig. ‘Freiheit’ ist hier weggelassen worden, wahrscheinlich damit der Bezug zur französischen Revolution nicht allzu auffällt. Zudem wird ‘Freiheit’ sowieso im Waldorf groß geschrieben, allerdings in einem eher spirituellen Sinne. Merkwürdig ist das Ganze deshalb, weil Steiners Jünger im allgemeinen die französische Revolution eher ablehnen, ja geradezu verteufeln. Nehmen wir zum Beispiel das Theaterstück ‘Der Weltenwanderer’ von dem anthroposophischen schweizerischen Autor Paul Bühler. Das Stück erschien 1958 in zweiter Auflage und.....Chevalier! Sie schlafen ja!“

 Torf hebt den Kopf vom Unterarm. „Oh Verzeihung, ja - bin ein wenig eingenickt. Erzählen Sie weiter, ich bemühe mich.“

 „Gut, also dieses streckenweise in ‘faustischem’ Ton verfaßte Werk scheint dazu dienen zu sollen, die Anthroposophie als geschichtsträchtige Macht zu begründen, eine Art Lehrstück für Waldorfschulen, stinklangweilig. Ich bezweifle, daß Schüler Lust haben so etwas aufzuführen oder anzusehen.

 Auftreten ‘Der WANDERER, später GRAF SAINT GERMAIN’ (ein quasi überzeitlicher Wanderer inkarniert in mich), dann ‘DER ALTE ROSENKREUTZER’, ‘PRINZ KARL VON HESSEN’, und so fort. Das ‘Drama’ besteht darin, daß die französische Revolution hätte verhindert werden können, wenn Frankreich mich mit meiner ‘Friedensmission’ 1760 im Haag hätte gewähren lassen. So wäre ich dann zum Retter der ‘Menschheit’ avanciert. Aber ich durfte ja noch nicht. Credo des Ganzen: die ‘Menschheit’ muß den Karma-Glauben übernehmen. Dann wird sich alles zum Besseren wenden. Krieg und Not verschwinden. Warum dies so sei, bedarf keinerlei Erklärung. Um der kruden Fabel den Anschein eines Dramas unter Menschen aus Fleisch und Blut zu geben, wird eine Art Liebespaar eingeführt, die Tochter des Grafen D’Affreys und der Student Michel. Es kommt zum Happy End. Allerdings soll wohl nicht wirklich geliebt werden, denn die letzten Sätze heißen: ‘Tochter: Ja, Vater, geh in unsere Heimat! - Mich aber laß hier in der Stadt mit Michel, unsrem Freunde, wirken, den wir im Chaos fanden.’ Man liebt nicht, sondern wirkt. Ich selbst wirke geschlechtslos, als würde mich nicht auch manchmal was jucken. Schrecklich.

 Ein anderes Elaborat nennt sich ‘Der Elf mit dem blauen Helm. Aus dem Leben des Grafen von Saint Germain’ und ist verfaßt von einem gewissen Joachim Winckelmann. Das Büchlein erschien zuerst 1958, in dritter Auflage 2001.

 Schauplatz des ersten Teils des Romans ist eine deutsche Residenzstadt gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Saint-Germain erscheint dem Erzähler (Bibliothekar in der Fürstenbibliothek) als ‘Graf Vermont’, auf der Flucht vor geheimnisvollen Häschern. Saint-Germain ist im Besitz von allerlei geheimen Tinkturen, z.B. einem ‘Wachmacher’. Leider kann ich Ihnen momentan davon nichts reichen, Chevalier. Saint-Germain verkehrt ständig an verschiedenen Fürstenhöfen, überbringt geheime Nachrichten, hat in jeder Stadt ‘Vertrauensleute’, die ihm Verkleidung ermöglichen. Gleichzeitig ist er offenbar überall willkommen, so will er nun den Landesherren des Bibliothekars und Erzählers besuchen. ‘Zufällig’ weiß Saint-Germain bereits, daß der Erzähler mit ihm im Auftrag des Fürsten nach Paris reisen soll, um dort einige äußerst seltene Bücher zu besorgen....

 Vorerst führt man ein ‘tiefes Gespräch über Alchimie, Kabbala, Magie und andere geheimnisvolle Disziplinen’ sowie die ‘Beschwörung von Geistern und Dämonen’. Saint-Germain ist, wie sich nun zeigt, auch im Spiritismus bewandert, so daß er sich bereitwillig die Erzählung Martins, des Bibliothekars Famulus, von der ‘alten Barbara’ anhört. Sie ist ein ‘Kräuterweiblein’, in dessen Nähe ‘die geheimnisvollsten Dinge’ geschehen: Materialisationen, selbständiges ‘Rücken’ von Gegenständen, Erscheinung von ‘Waldgeistern’, etc. Auf Wunsch Saint-Germains wird ein abendliches Zusammentreffen mit Barbara vereinbart, auf dem es dann zu den wunderbarsten ‘Erscheinungen’ kommt: so tritt ein ‘alter Soldat’ mit einem ‘Stelzfuß’ auf. Er trägt eine Uniform, die ‘wohl aus dem 30-jährigen Krieg zu stammen schien’. Von irgendwo erklingt dann die Marsellaise. Der Soldat beginnt mitzusingen, bricht dann ab mit der Bemerkung: ‘Kenn’ ich nicht, das Lied haben wir niemals gesungen’. Saint-Germain interpretiert dies als ‘eine Warnung’ vor Ereignissen, die sich ‘gegen Ende des Jahrhunderts in Paris und ganz Frankreich abspielen werden’.

 Der Bibliothekar und sein Gehilfe berichten Saint-Germain von einem alten Buch mit allerlei Rezepten für ‘Elixiere’. Der Autor der Schwarte berichtet vom Erscheinen eines ‘Elf’, der immer dann erschien, wenn mit einer bestimmten ‘außerordentlich giftigen Pflanze labouriert wurde.’ Natürlich bringen die drei Versammelten selber dann ‘den Elf’ zum Erscheinen. Steht ja alles da, wie’s gemacht wird. Saint-Germain selbst stellt dann schnell einmal etwas Gold her. Am folgenden Tage reist er ab.

 Schauplatz des zweiten Teils ist ein Schloß ‘fern von Paris in der südlichen Provinz’. Der Erzähler und Saint-Germain sehen sich mit anderen dort Anwesenden ein Puppenspiel an, worin schon wieder vor künftigen fürchterlichen Ereignissen gewarnt wird: ‘Hört ihr das? Sie stürmen die Bastille. Das ist der Anfang!’ etc. Unter den Gästen ist auch ein Herr Guillotine.

 Im nächsten Kapitelchen ist der Erzähler in Paris auf der Suche nach den von seinem Fürsten verlangten Büchern. Bei einem Antiquar wird er fündig. Ein Buch wird erworben. Selbstverständlich kennt der Büchermensch auch den ‘Grafen’. Als er hört, daß der Erzähler mit ihm zu tun hat, ‘sprühte die ganze Lebendigkeit des Franzosen in ihm auf’. Es gibt ‘köstlichen Rotwein’. Ein ‘Mädel’ taucht auf. Den Antiquar redet sie mit ‘Oheim’ an. ‘M. von Steineck’ (so der Name des Erzählers) darf sie nach Hause begleiten. Sie ist die Schwester ‘des Malers Bonnard’. Im Haus der Geschwister Bonnard hält sich Steineck dann bis tief in die Nacht auf. Und zum Abschied behält er ‘Héloises schmale Hand länger’ in der seinen ‘als es allgemein schicklich war. Sie wehrte es mir nicht.’

 Der Erzähler begibt sich weiterhin auf die Suche nach bewußten Büchern durch das offenbar vorrevolutionäre Frankreich. Überall gärt und dräut es. Unterwegs erhält er eine Reihe von Briefen vom Grafen, in denen er von seinen Versuchen berichtet, das Furchtbare abzuwenden. Die Briefe sind z.T. mit ‘rosenkreuzerischen’ Formeln unterzeichnet. Saint-Germain rät Steineck, Frankreich zu verlassen. Aber....da ist doch Héloise in Paris. Was soll aus ihr werden?

 Es kommt, wie es kommen muß: die Geschwister Bonnard werden von den Revolutionären eingekerkert. Doch Steineck gelingt es mit Hilfe von Anweisungen des Grafen, seine geliebte Héloise und deren Bruder zu befreien. Ein gewisses Elixier öffnet die Kerkermauern. Und um den Okkult-Kitsch zu vollenden. ist auch der ‘Elf’ beteiligt: ‘Leuchtend hell in seinem Gewande stand dort der Elf mit dem blauen Helm! Mit freundlicher Geste winkte er uns näherzukommen.’ Und dann eben öffnet sich eine Tür. Freiheit!

 Wie konnte all dies geschehen? ‘Wir saßen mit Martin an dem großen Kamin und erzählten ihm von unseren Erlebnissen und der wunderbaren Rettung der Geschwister’. Wie konnte man ‘unbemerkt von den Soldaten bis zum Wagen gelangen?’ Man hatte doch einen Tee getrunken? Der wird einen wohl unsichtbar gemacht haben. So war’s wohl. Tja. Und dann erscheint wieder der Elf. Er kann auch sprechen: ‘Ich bin glücklich, daß ich euch helfen durfte. Meine Aufgabe ist erfüllt. Was einmal traurig begonnen hat, ist glücklich zu Ende geführt. Ich habe früher einmal gefehlt und mir ist vergeben. Ich werde weiterschreiten auf dem Weg unserer Entwicklung und einst ein Engel werden. Lebt wohl!’

 Die letzten Sätze: ‘Der große Pan hatte sein Kind in sein Reich zurückgenommen. Wir saßen ganz still.’ Ach, Chevalier, ich könnte Ihnen noch so manches berichten, über Ecos ‘Foucaultsches Pendel’ etwa, über Karl May oder die schrecklichen, schwülstigen Bücher der Irene Tetzlaff, worin ich zu einem ‘Licht in der Finsternis’ zur Erleuchtung und Erlösung der gesamten Menschheit verklärt werde, oder über den banalen Irrsinn, der über mich im Internet zu finden ist, oder über einen der wenigen Romane von literarischem Wert, in denen ich eine Rolle spiele. Sein Autor: Alexander Lernet-Holenia. Auch Rilke hat.... Chevalier!? Was....Sie schnarchen ja!“

 Quer über den Tisch hat Torf die Arme gestreckt. Sein Kopf liegt schräg darauf, die Augen fest geschlossen.

 

 „Torf, wach auf. He!“

 Der Wirt vom Oblomow rüttelt an der Schulter des Schnarchenden.

 Ein tiefer Seufzer dringt dem Wirt ans Ohr. Torf zieht die Arme ein und hebt langsam den Kopf.

 „Was ist?“

 „Du hast uns ganz gut unterhalten mit Deinem Gesäge. Es ist viertel nach Eins, Feierabend!“

 „Wo ist der Graf?“

 „Der Graf? Du meinst den Typen in Deiner Begleitung? Das war schon ein wenig lustig. Er hat erzählt und erzählt, während Du schon eingeschlafen warst. Hat sich regelrecht in Rage geredet. Dann ist er plötzlich vorsichtig zu mir geschlichen, hat alles bezahlt und ist gegangen.“

 „Verdammt. Ich wollte ihn noch was fragen. Hat er gesagt, wo er hinwill?“

 „Nichts gesagt. Nur, daß er sich mal auf den Weg machen wolle.“

 Torf reibt sich den Nacken, dreht den Kopf ein paar Mal hin und her.

 „Und er hat wirklich alles bezahlt? So kenne ich ihn gar nicht.“

 „Doch - hat er.“

 „Na gut. Auch gut. Ich geh dann mal.“

 „Mach’s gut, Torf!“

 „Ja - Du auch, gute Nacht.“

 Torf verläßt die Kneipe, überlegt, ob er nach links zum Bahnhof oder nach rechts in Richtung Nicolaikirche gehen soll. Dann schwenkt er nach links und wieder scharf nach links, geht in Richtung des ‘Bistro’ mit der Absicht, dort noch einen Wein zu trinken, aber auch in der Hoffnung, Saint-Germain vielleicht dort noch einmal zu treffen.

 Er betritt das Bistro; er ist der einzige Gast. Er setzt sich, bestellt Wein.

 „Ich werde heute Nacht nicht gut schlafen..... Es wird eine lausige Nacht.......Ich hätte den Grafen nicht hierher kommen lassen sollen. Ein Fehler..... Alles wissen, niemals sterben - es wäre schon gut....“

 Er trinkt aus und geht nach Hause.

 

Quelle: Eckernförder Strandgut.- Heft 5.- Eckernförde, 2004.